Die Türkei hat einen neuen, alten Präsidenten und ein neu gewähltes Parlament. Die neue Macht des Präsidenten ist aber brüchiger, als Viele annehmen.
Recep Tayyip Erdoğan hat die vorgezogene Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang gewonnen und seine Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), deren Vorsitzender er ist, konnte zusammen mit der rechtextremen MHP bei der ebenfalls am Sonntag (24.06.) abgehaltenen Parlamentswahl die absolute Mehrheit der Stimmen hinter sich vereinigen. Die beiden Parteien sind zur Parlamentswahl gemeinsam angetreten. Laut Erdoğan, der in der Türkei seit 16 Jahren erst als Ministerpräsident, dann als Präsident an der Macht ist, war die Vorverlegung notwendig, um angesichts bevorstehender Herausforderungen, wie der Lage in den Nachbarländern Irak und Syrien, rasch zu einem Präsidialsystem zu wechseln. Entscheidend war jedoch mit Sicherheit auch der wachsende innenpolitische Druck. Nicht nur aufgrund der fortlaufenden Untergrabung des Rechtsstaates, sondern vor allem, weil die wirtschaftliche Lage in der Türkei weiter angespannt ist. Nach vielen Jahren, in denen die Türkei unter Erdoğan einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt hat, verliert die türkische Lira immer weiter an Wert. Seit Mitte 2016 waren es gegenüber Euro und Dollar rund 40 Prozent. Erdoğan versucht mit einer expansiven Geldpolitik gegenzusteuern. Vor der Präsidentschaftswahl wurde der Leitzins noch einmal massiv erhöht, um einen weiteren Preisverfall der Lira zumindest abzumildern. Mit unabsehbaren Folgen für die türkische Wirtschaft, deren Erfolg maßgeblich auf einem wackligen Fundament aus riesigen Kreditsummen beruht. Steigt der Leitzins, werden Kredite teuer und Firmen und Privathaushalte können ihre Zinsen nicht mehr bedienen, es drohen Kreditausfälle. Die massive Verschuldung der letzten Jahre hat zu einer Inflationsrate von mittlerweile zwölf Prozent geführt. Der türkischen Wirtschaft stehen also stürmische Zeiten bevor und da ist es gut, wenn man die Präsidentschaft schon einmal in der Tasche hat. Trotz des Ausnahmezustands und damit einhergehender eingeschränkter Berichterstattung und Meinungsfreiheit, Verlegungen von Wahlbüros und teils einschüchternder Militärpräsenz haben 48 Prozent Erdoğan nicht gewählt. Seine Partei hat die absolute Mehrheit im Parlament verloren. Es wird für ihn nicht einfacher.
Erdoğan ist mit dem Wechsel zum Präsidialsystem mit einer für demokratische Verhältnisse atemberaubenden Machtfülle ausgestattet. Möglich macht ihm das die Umsetzung des Verfassungsreferendums vom April 2017. Es stärkt die Exekutive und konzentriert die Macht zulasten des Parlaments auf den Präsidenten. Das Militär spielt als machtpolitischer Akteur keine Rolle mehr. Eine Folge des gescheiterten Putschversuches im Juli 2016.
Der Ministerrat und damit das Amt des Ministerpräsidenten fallen komplett weg und fast alle Befugnisse gehen auf den Präsidenten über. Der Präsident ernennt und entlässt die Minister nach Belieben ohne Mitwirkung des Parlaments. Eine Gewaltenteilung, wie sie in anderen präsidial-, bzw. semi-präsidialen Systemen wie den USA oder Frankreich vorhanden ist, gibt es praktisch nicht, Misstrauensvotum und Vertrauensfrage sind abgeschafft. Als einziges Kontrollmittel des Parlaments bleibt das Ermittlungsverfahren. Hierbei kann der Präsident für begangene Straftaten vor das Verfassungsgericht als Strafgerichtshof gebracht werden. Erdoğan muss sich als Vorsitzender der stärksten Partei hier aber keine Sorgen machen. Durch den Parteivorsitz hat er großen Einfluss sowohl auf das Abstimmungsverhalten seiner Partei, als auch auf die Kandidaturen zum Parlament. Die Justiz ist durch „Säuberungsaktionen“ und Neubesetzungen nach dem Militärputsch zum Handlanger der Exekutive geworden.
Bei der Präsidentschaftswahl haben von ca. 1,44 Millionen wahlberechtigten Deutschtürken 45,7 Prozent ihre Stimme abgegeben. 65 Prozent haben für Erdoğan gestimmt. Schon beim Referendum über die Verfassungsreform im April 2017 stimmten 63,1 Prozent mit Ja, die Reformgegner kamen nur auf 36,9 Prozent. Wir müssen uns also ganz unmittelbar in Deutschland mit der Frage befassen, warum Bürgerinnen der Bundesrepublik scheinbar deren Grundfeste in Frage stellen. Dabei ist es wenig hilfreich, sie als Feinde der liberalen Demokratie zu brandmarken und hoffnungslos aufzugeben. So kann eine pluralistische Gesellschaft nicht auf die Wahlerfolge der AfD reagieren und genau so wenig darf sie so mit Unterstützerinnen von Erdoğan umgehen.
Gibt es eine Demokratieverdrossenheit in unserem Land? Woher kommt der Wunsch nach autoritärer Führung?
Wir brauchen keine neue Integrationsdebatte über den „Problemfall“ Deutschtürke. Vielmehr sollte mehr mit den Menschen geredet werden und weniger über sie. Es werden attraktive Identifikationsangebote benötigt, die eine Ideologisierung des Lebens in der vermeintlichen Diaspora verhindern und an die Stelle einer Stilisierung der heimatlichen Größe und Macht effektive Mechanismen setzen, welche die Erfahrbar-Machung von Selbstwirksamkeit in einer Demokratie ermöglichen. In dem Moment, in dem sich Menschen selbst als Subjekte der Demokratie und Teil dieser Gesellschaft begreifen, wenn sie ihre Umwelt mit gestalten, erfahren sie eine Selbstwirksamkeit, aus der ein Selbstbewusstsein und eine stabile Identität entstehen kann.
Es ist erst diese demokratische Gesellschaftsfähigkeit, die das Leben in einem demokratischen Verfassungsstaat und in einer offenen Gesellschaft so wertvoll macht. Wer daran aufgrund von Mechanismen der Ausgrenzung nicht teilhaben kann, wird ihren Wert nie erkennen.
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