Am 29. Juli, um etwa 12.30 Uhr Ortszeit rast ein Bus in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs in eine Studentenmenge. Zwei von ihnen sind auf der Stelle tot, weitere sieben werden zum Teil schwer verletzt.1 In der Folge ergießt sich eine Welle von Protesten über die Stadt und den Rest des Landes, die über eine Woche anhalten werden.
Diese Proteste dienen als Katalysator für jahrelang aufgestaute Unzufriedenheit mit der Regierung – sagt Shahidul Alam, ein weltweit renommierter Photojournalist, in einem Interview am 04. August.2 Seine Vorwürfe sind weitreichend; „[Die Regierung] hat nicht wirklich ein Mandat, hält sich aber mit roher Gewalt. [D]as Verschwinden [von Personen], der Zwang, Schutzgeld zu zahlen [und] Bestechung auf allen Ebenen“ seien auch verantwortlich gewesen für Proteste, die Alam in Verbindung mit den Demonstrationen Anfang August bringt. Im April hatten in Bangladesch große Proteste gegen Vetternwirtschaft stattgefunden, die brutal niedergeschlagen worden seien, so Alam. Die Premierministerin von Bangladesch, Hasina Wajed, habe damals zwar Reformen versprochen – sei jedoch später wieder von diesen abgerückt. Damit erklärt er die zum Zeitpunkt des Interviews bereits Tage anhaltende, kriegsähnliche Situation in Dhaka; die Premierministerin habe ihre Glaubwürdigkeit endgültig verspielt.
Nur Stunden nach dem Interview wird Shahidul Alam von mehreren Männern in Zivil mit verbundenen Augen abgeführt. Handys von Augenzeugen werden konfisziert.3
Die innenpolitische Situation in Bangladesh ist insgesamt also äußerst angespannt: „Das politische Leben ist von tiefen Kluften zwischen den beiden größten Parteien (Bangladeschs Nationalistischer Partei und Bangladeschs Awami League) und einer extremen Politisierung der Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes geprägt, die sich in Korruption und Vetternwirtschaft und in regelmäßigen Ausbrüchen politischer Gewalt zeigt.“ So urteilt die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem Länderprofil-Bericht 2015.4
In einer Analyse der Hintergründe der Proteste wurden erschreckende Zahlen zur Verkehrssicherheit in Bangladesch genannt: so beläuft sich die Zahl der Verkehrstoten pro Tag auf durchschnittlich 20. Im Jahr 2017 sollen alleine 4.200 Fußgänger getötet worden sein.
Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation ist Bangladesch dasjenige südostasiatische Land mit den schlechtesten Gesetzen für Verkehrssicherheit5.
Schlechte Gesetzgebung, fehlende – beziehungsweise korrupte – Kontrollinstanzen sowie schlechte Arbeitsbedingungen der Busfahrer (Schichten von 17 Stunden für einen Stundenlohn von weniger als einem Dollar6). Der Generalsekretär der Straßentransport-Gesellschaft hat nun zugesichert, keine Fahrer ohne Führerschein mehr einzustellen.7
Vor diesem Hintergrund verwundert es sicher nicht, dass die Tode durch den Busunfall am 29. Juli zu weitreichenden Protesten führten.
Laut Medienberichten8 blockierten zehntausende Schüler und Studenten in den folgenden Tagen die Straßen der Hauptstadt Dhaka. Dabei ließen die Protestierenden nur Krankenwagen passieren und kontrollierten tausende Fahrzeugpapiere ziviler Fahrer.9
Dabei wurden jedoch auch die Fahrzeuge von Beamten gestoppt, etwa der stellvertretende Generalinspekteur der Flusspolizei Habib. Auch sein Fahrer hatte keinen Führerschein, das Fahrzeug keine Registrierung.10
Aber nicht nur auf den Straßen in Dhaka waren die jungen Demonstrierenden aktiv, sondern ganz wesentlich auch im Internet: auf Blogs, gehackten Webseiten und durch Live-Update-Services riefen sie die Welt zur Aufmerksamkeit für ihre Situation auf. Dabei fielen immer wieder Vorwürfe auch gegenüber westlichen Medien, wissentlich keine Berichte über die Proteste in Dhaka zu publizieren.
Nicht nur, dass die Regierung als Antwort auf die Proteste zuerst Mobilfunknetzwerke verlangsamen (sog. ‚brown-outs‘) und schließlich für mindestens 24 Stunden abschalten ließ11; in dem Versuch, die Ausbreitung und das Andauern der Proteste zu verhindern, griff die Polizei schließlich zu Tränengas, Gummiknüppeln und Gummigeschossen.
Generell hat jeder Staat das Recht, unangemeldete Proteste, besonders in einem Fall wie diesem, in dem wichtige Verkehrsknotenpunkte der Hauptstadt eines Landes für mehrere Tage unbenutzbar sind, zu unterbinden. Was sich aber am Wochenende des 04. und 05. Augustes und den darauffolgenden Tagen in Dhaka ereignete, ist eine Magnitude nicht nur über dem, was sich ein Staat zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit erlauben kann; was folgte, waren nicht nur Verletzungen des Rechts auf freie Meinungsäußerungen. Als sich die Bangladesh Chatra League, die Studentenorganisation der Regierungspartei Awami League in die Proteste einmischte – ihre Gesichter durch Helme geschützt und mit Stöcken bewaffnet, mit Unterstützung der Polizei, beginnt eine neue Ebene der Gewalttätigkeit gegenüber den Protestierenden.12
Die gehackte Webseite des Notre-Dame-College in Dhaka enthielt am Abend des 04. August folgende Nachricht:
„Dear Bangladesh Prime Minister and Principals, [d]id you achieve the peace by Beating. Killing. Raping Teen Students? Bangladesh Chatra League attacked innocent college Students in Jigatola Dhanmondi today 04/08/18.“13
Darunter sind Bilder verletzter Protestierender abgebildet; blutende Menschen werden von anderen getragen und versorgt. Einer liegt reglos mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden – in einer Lache seines eigenen Blutes. Ein verlinktes Video zeigt ein Mädchen, das berichtet, dass zum Zeitpunkt des Filmens ihre Freundin in einem Büro der Awami League vergewaltigt wird.14
The Daily Star veröffentlicht ein Video auf Youtube, in dem Männer mit Stöcken zu sehen sind. Als sie bemerken, dass sie gefilmt werden, laufen sie auf die Kamera zu – das Video bricht ab.15
Nach Berichten der BBC wurden auch Mitglieder der lokalen Presse von den Schlägern der BCL angegriffen. Ihre Kameraausrüstungen wurden zerstört, und eine weibliche Reporterin berichtet auch von sexuellen Übergriffen, während sie versuchte, die Konfrontationen auf der Straße zu filmen.16
Ein privater Blog, der augenscheinlich von Studenten betrieben wird, errechnet die mutmaßlichen Opferzahlen am siebten Tag der Proteste:
„4 male students have been shot dead, 4 female students have been raped and murdered, 1 male student had his eyes clawed out, 40–50 of female students are still missing. These are however not verified news […] but I trust what my friends and classmates are saying.“17
Es ist nicht klar, wie viele von diesen Berichten verifiziert werden können. Dass das Ausmaß der Gewalt jegliche Regelhaftigkeit überschritten hat, ist jedoch am Wochenende nach dem 29. Juli längst keine Frage mehr.
Die internationale und mediale Reaktion ließ angesichts dieser Umstände unverhältnismäßig lange auf sich warten. Am Sonntag, dem 05. August veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Mitteilung, sie sei bezüglich der „Sicherheit von Kindern und jungen Demonstrierenden“ besorgt.18
Die US-amerikanische Botschaft veröffentlichte ein Statement auf Facebook, indem sie die „brutalen Attacken und Gewalt“ gegenüber Demonstrierenden verurteilte19. Der Informationsminister von Bangladesch forderte die Botschaft auf, diese Stellungnahme zurückzunehmen; sie sei „unhöflich“20.
Die Vorfälle in Bangladesch regen zum Nachdenken an. Ein Staat gibt seine Rechtsstaatlichkeit auf und geht gewaltvoll gegen Protestanten/innen vor. Das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Einhaltung der Pressefreiheit ist in diesem Land längst nicht mehr vorhanden. Es stellt sich die Frage, warum die Berichterstattung insbesondere auch von den westlichen Nationen so zurückhaltend ausgefallen ist.
Ist es denn nicht gerade in diesen Fällen umso wichtiger, auf die Situation und die Vorfälle aufmerksam zu machen? Ist eine Einschüchterung womöglich eine Bestätigung für die Peiniger? Vielleicht müssten diese und viele weitere Punkte zu dem Thema deutlich ausführlicher auch in den deutschen Medien besprochen werden. Das Wegschauen wäre definitiv die falsche Lösung!
Quellen:
1 https://www.dhakatribune.com/bangladesh/dhaka/2018/07/29/2-students-killed-in-dhaka-road-accident
2 https://www.youtube.com/watch?time_continue=17&v=J9j3EgLm62Q
3 https://www.washingtonpost.com/news/democracy-post/wp/2018/08/20/heres-why-the-bangladeshi-government-made-a-huge-mistake-by-jailing-shahidul-alam/?noredirect=on&utm_term=.56443d7bcb49
4 http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/L%C3%A4nderprofil%20Bangladesch_2015.pdf
5 http://www.who.int/violence_injury_prevention/road_safety_status/2015/Road_Safety_SEAR_4_for_web.pdf
6 https://www.reuters.com/article/bangladesh-protests-drivers/rpt-overworked-underpaid-bangladesh-bus-drivers-say-accidents-not-entirely-their-fault-idUSL4N1V41YA
7 ebd.
8 https://www.reuters.com/article/us-bangladesh-protests/bangladesh-police-fire-tear-gas-to-clear-protesters-blocking-traffic-idUSKBN1KQ098
9 https://medium.com/@studentofdhaka/bangladesh-wants-justice-da027e539c8a
10 https://www.thedailystar.net/city/students-stop-police-dig-finds-no-license-or-papers-students-block-streets-in-dhaka-1614904
11 https://www.bbc.com/news/world-asia-45069935?SThisFB
12 http://www.banglanews24.com/national/article/70017/Protesting-students-come-under-attack-at-Jhigatola
13 http://archive.is/MZEhf#selection-24.3-12.1
14 https://drive.google.com/file/d/1B5Fz2SIgtZty7u1nK3XjYuF28HIY2CFr/view
15 https://www.youtube.com/watch?v=QQ29Rb53nD0
16 https://www.bbc.com/news/world-asia-45069935?SThisFB: Namentlich bekannte Opfer der Presse: AM Ahad (AP), Zawad (Daily Janakantha), Palash (Banik Barta), (Zuma Press), Sharif (Dainik Naya Diganta), Rahat (selbstständig) und Enamul Hasan, ein Fotografiestudent (Pathsala South Asian Media institute)
17 https://medium.com/@studentofdhaka/bangladesh-wants-justice-da027e539c8a
18 https://en.prothomalo.com/bangladesh/news/181088/UN-urgently-calls-upon-all-to-keep-everyone-safe
19 https://www.reuters.com/article/us-bangladesh-protests/bangladesh-demands-u-s-embassy-withdraw-criticism-over-protests-idUSKBN1KT1ST
20 ebd.