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Die Anzeigetafel am Bahnhof, die Speisekarte im Restaurant, ein Formular beim Arztbesuch. Für viele Menschen ganz alltägliche Dinge, über die nicht zweimal nachgedacht werden muss. Bei anderen Menschen können sie Panik auslösen.
Am 8. September war Weltalphabetisierungstag – international ist Analphabetismus noch immer ein weit verbreitetes Problem und auch in Deutschland können fast 7,5 Millionen Menschen nicht richtig Lesen und Schreiben. Das sind 14,5% der Erwachsenen Bevölkerung. Obwohl die Menschen in der Regel die Schulpflicht erfüllt haben, sind sie nicht in der Lage, zusammenhängende Texte, Sätze oder gar einzelne Wörter zu lesen. Man spricht von funktionalem Analphabetismus, das heißt, die Menschen können ihren Alltag bewältigen und haben Strategien gefunden, den Kontakt mit Schrift größtenteils zu vermeiden. Trotzdem schränkt die fehlende Fähigkeit, zu lesen und zu schreiben, ihr Leben erheblich ein. Die Teilnahme am sozialen, kulturellen, politischen und beruflichen Leben ist für sie nur eingeschränkt möglich. Noch dazu herrscht ständig die Angst, als Analphabetin oder Analphabet entdeckt zu werden.
Wie kommt es, dass so viele Menschen das Schulsystem durchlaufen und doch nie richtig lesen und schreiben lernen? Es gibt viele verschiedene Ursachen, die alleine oder im Zusammenspiel die Entstehung von Analphabetismus begünstigen können. Negative Erfahrungen in der Schule und Zuhause können zum Beispiel zu Leistungsproblemen im Unterricht und geringem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten führen. Werden hier keine passenden Fördermaßnahmen angesetzt, entstehen schnell Defizite in der Schriftsprachkompetenz und ein negatives Selbstbild. Schon früh lernen Kinder dann, Situationen zu vermeiden, in denen sie mit Schrift konfrontiert werden. Dadurch werden die Defizite immer größer und es beginnt ein Teufelskreis, aus dem es schwierig ist, auszusteigen. Im Erwachsenenalter kommen dann häufig Diskriminierungserfahrungen hinzu, wenn fremde Menschen die Schwächen bemerken. Auch das wirkt sich wieder negativ auf das Selbstbild aus und kann unter Umständen in eine gesellschaftliche Außenseiterstellung drängen.
Viele Menschen, die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind, haben keinen Bildungsabschluss (etwa 20%). Es gibt jedoch auch Menschen, die einen höheren Bildungsabschluss (Abitur oder höher) haben und trotzdem nicht richtig lesen und schreiben können (etwa 12%). Für die Berufswahl ist das entscheidend. In der Bauhilfsarbeit, der Reinigungsarbeit oder beim Führen von Erdbewegungs- und ähnlichen Maschinen ist der Anteil funktionaler Analphabetinnen und Analphabeten am höchsten und liegt zwischen 40 und 56%. Die Tendenz ist mit dem Alter steigend und Männer sind häufiger betroffen als Frauen.
Analphabetismus ist damit ein wichtiges Problem, das von Land und Bund einiges an Aufmerksamkeit bekommt. So wurde im Jahr 2015 eine „Nationale Dekade für Alphabetisierung und Grundbildung“ ausgerufen, in deren Rahmen zwischen 2016 und 2026 dauerhafte und tragfähige Strukturen der Alphabetisierungs- und Bildungsarbeit geschaffen werden sollen. Es soll also vermehrt niedrigschwellige Lernangebote für Erwachsene geben, die Qualität der Lehrmaterialien soll verbessert und das Lehrpersonal professionalisiert werden. Außerdem soll auch durch gezielte Öffentlichkeitsarbeit das Umfeld betroffener Menschen sensibilisiert werden, um eine optimale Unterstützung zu gewährleisten.
Hessen
In Hessen kann von etwa 550.000 betroffenen Menschen ausgegangen werden. In den letzten Jahrzehnten ist die Anzahl der Alphabetisierungskurse enorm gestiegen, was sicher nicht zuletzt mit den vielen Fördermaßnahmen des Landes zusammenhängt. Für öffentliche Einrichtungen der Weiterbildung gehören Kurse zu Grundbildung und Alphabetisierung sogar zum Pflichtprogramm. Außerdem können beispielsweise Jobcenter und Agentur für Arbeit Analphabetinnen und Analphabeten unterstützen, indem sie die Teilnahme an Alphabetisierungskursen befürworten und somit für die Betroffenen die Kostenübernahme sichern.
Seit Januar 2016 gibt es außerdem 5 Grundbildungszentren in Hessen, deren Ziel eine regional ausdifferenzierte Unterstützungsstruktur zur Alphabetisierung und Grundbildung Erwachsener ist. Diese Zentren finden sich in Darmstadt, Frankfurt, Gießen, Kassel und Wiesbaden. Fünf weitere Zentren sollen noch entstehen.
Das Grundbildungszentrum Gießen findet sich in der Reichenberger Straße 15 in Gießen – Wieseck und ist telefonisch erreichbar unter der Nummer 0171 657 52 91.
Oder im Internet unter diesem Link.
Quelle:
https://kultusministerium.hessen.de/schulsystem/erwachsenenbildung/alph
abetisierung-und-grundbildung/alphabetisierung-und-grundbildung