Ich bin auf dem Heimweg von Freund_innen. Wir hatten einen schönen Abend: viel geschnackt – ich vielleicht ein bisschen mehr als die anderen – Guacamole gegessen mit Brötchen, Nachos waren aus, die von der Tanke eindeutig zu teuer. Auch ohne Nachos war es ein wunderbarer Abschied vom Wochenende und von Jascha, für den geht’s morgen wieder nach Österreich.
Es ist kalt, aber ich mag es so. Hitze und Schwitzen sind echt nicht meins. Bis zu einem gewissen Grad (Wortwitz) kann man sich immer dicker anziehen, dünner geht irgendwann nicht mehr und dann klebt auch noch jedes Bisschen Stoff an einem und man selbst klebt ja auch. Zwischenfazit: Kalter sonniger Winter schlägt heißen sonnigen Rekordsommer um Längen. So fahre ich also mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck nach dem gelungenen Abend auf meinem Rad durch die nächtliche Kälte zu meiner WG zurück. Einmal quer durch die Stadt, aber ich bin dick angezogen und bewege mich ja, da machen mir die -7°C nichts aus. Es gefällt mir sogar, weil ich weiß, dass ich bei der Steigung der Licher Straße überhaupt nicht schwitzen werde. Es wird einfach nur schön warm.
Als ich aber bei der Licher ankomme, würde ich gern schwitzen. Das würde nämlich bedeuten, dass der Obdachlose, den ich gerade beim Zeughaus auf einer Bank liegen sah, nicht so verdammt frieren muss. Aus Richtung Döner-Dreieck kommend rollte ich auf meinem Sattel vorbei und dachte „nein“. Schluss mit Genießen der eisigen Temperaturen, die waren schlagartig für einen anderen Menschen eine Gefahr, lebensbedrohlich. Ich würde ihn am liebsten mitnehmen, aber ich kann ihn ja nicht einfach über mein Rad legen und weiterfahren. Warum liegt er da? Warum hilft ihm niemand? Warum helfe ich ihm nicht? Ich bleibe kurz stehen. Ich kann wenigstens hingehen und ihn fragen, wie es ihm geht. Und dann? Was ist das für eine schwachsinnige Frage? Wie wird es ihm wohl gehen… Es ist arschkalt.
Er liegt da – und mit dem folgenden Ausdruck möchte ich ihn gewiss nicht verhöhnen – kunstvoll eingepackt in alles Mögliche: Zeitungen, Tüten, ein Handtuch und darunter sicher noch mehr. Wenn ich ihn jetzt wecke und er im Schreck aufspringt, muss er alles neu machen, weil ich noch nicht weitergedacht habe und keine Alternative für ihn habe. Ich brauche eine andere Lösung. Ich fahre schneller, die Gedanken drehen sich. Endlich daheim. Ich schreibe Christian, der hat bestimmt eine Idee. Ich kann nicht auf die Antwort warten und rufe bei der Polizeistation beim Berliner Platz an. Ein Polizist nimmt ab, er meldet sich, ich melde mich. Ich sage: „Ich weiß nicht, was genau ich mir von diesem Anruf erwarte.“ Dann erkläre ich ihm, was ich gesehen habe, dass ich überfordert war und den Mann (War es überhaupt ein Mann?) ja schlecht über mein Rad legen und weiterfahren konnte. Der Polizist lacht kurz, er klingt sehr freundlich. „Wir schauen uns das mal an“, sagt er. Er bedankt sich für meinen Anruf, wir legen auf. Mein Gewissen ist nicht beruhigt, darum ging es auch nicht. Ich fühle mich schlecht, weil ich Angst habe, dass es schon zu spät ist.
Christian, dem ich direkt von meinem Anruf bei dem Polizisten geschrieben habe, antwortet. Er meint, ich habe alles richtig gemacht, und erklärt noch kurz, was eine Streife nun unternehmen wird: Hinfahren, ansprechen, auf die Obdachlosenunterkunft verweisen oder hinbringen. Und wenn er da rausgeflogen ist, denke ich mir. Ich bin Christian aber sehr dankbar, seine Nachricht hat mich etwas beruhigt.
Fazit: Heute Nacht mag ich die Kälte überhaupt nicht. Sie kann mir nichts tun, weil ich in meinem beheizten Zimmer an meinem Schreibtisch sitze und aufschreiben kann, was auf meinem Heimweg von Freund_innen passiert ist. Der Mensch auf der Bank hat dieses Glück nicht. Ich hoffe, dass es ihm gut geht. Hans Christian Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern kommt mir in den Sinn.
Wer wie ich spontan nicht weiß, wie man Obdachlosen am besten durch die kalte Jahreszeit hilft, erfährt hier, was man tun kann:
https://www.mz-web.de/leben/lebensrettung-so-koennen-sie-obdachlosen-im-winter-helfen-25256928
https://www.youtube.com/watch?v=3WBrs-tlt5E
Sind Obdachlose unzureichend vor Kälte geschützt, droht Tod durch Erfrieren:
https://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/erster-kaeltetoter-in-diesem-jahr–obdachloser-liegt-tot-auf-parkbank-im-humboldthain-31906688
Dennis Koch