Ein Artikel der raumstation3539
die Auswirkungen des Onlinehandels auf den stationären Handel sind weitgehend bekannt und besprochen. Doch in der digitalisierten Welt verändert nicht nur Amazon unsere Innenstädte, sondern auch Netflix, WhatsApp, Facebook, Lieferando und das Home-Office.
Die Tatsache, dass dadurch nicht „nur“ der Einzelhandel, sondern auch ganze Stadtquartiere unter Druck geraten, hat der BID Marktquartier erkannt und stellt Überlegungen an, wie man lebendige Quartiere vor diesen Verwerfungen schützen und für die Zukunft entwickeln kann.
DIE AUTOGERECHTE STADT ALS ANTWORT?
In den 1920er und 30er Jahren erdacht und im Wiederaufbau der 50er und 60er umgesetzt sollte die autogerechte Stadt die nötige Infrastruktur für das 20. Jahrhundert bieten. Dazu gehörte auch die Logik des ‚Kundenparkplatzes direkt vor dem Laden‘.
Doch haben sich zwischenzeitlich u.a. folgende Bedingungen grundlegend geändert:
- Räumlicher Mangel
Zu Beginn der autogerechten Stadt konnte das geringe Verkehrsaufkommen gut bewältigt werden und jede*r fand den (Park-) Raum den man benötigte. Doch schnell zeigte sich: wer Verkehr sät, erntet ihn auch. Und so ist es schon seit den 1980ern der Fall, dass die räumlichen Kapazitäten für den motorisierten Individualverkehr erschöpft sind und schon lange nicht mehr ausreichend Parkflächen zur Verfügung gestellt werden können.
- Keine Notwendigkeit ‚in die Stadt‘ zu fahren
Vor dem Onlinehandel waren die Menschen auf das Angebot der Stadt angewiesen; wer nicht zum Geschäft fahren/laufen konnte, konnte sich beispielsweise nicht mit Kleidung versorgen. Heute werden Innenstädte weniger als Versorgungszentren wahrgenommen, sondern dienen vielmehr als Umfeld für die individuelle Freizeitgestaltung: soziale Kontakte, Kultur, Kulinarik, Shoppen als Erlebnis, Ausgehen, Bewegung und Sport – oder auch einfach die Entspannung im Park.
Dies bedeutet, die autogerechte Stadt kann den veränderten Bedingungen schlichtweg nicht mehr gerecht werden. Es muss ein neues, den Anforderungen entsprechendes Konzept her.
UND JETZT!?
Wenn man die Innenstädte am Leben halten und weiterentwickeln möchte, muss man sie also dem veränderten Bedarf anpassen: dem Raum für individuelle Freizeitgestaltung (wie bereits oben aufgezählt: soziale Kontakte, Kultur, Kulinarik, Shoppen als Erlebnis, Ausgehen, Bewegung und Sport oder auch einfach die Entspannung im Park). Aber wie muss das Angebot aussehen, um die neue Art der Nachfrage zu befriedigen? Welches Alleinstellungsmerkmal hat das lebendige Marktquartier? Was lockt die Menschen dorthin? Möchten Sie Ihre Freizeit auf einem Parkplatz verbringen?
DIE MENSCHENGERECHTE STADT ALS ANTWORT!
Nutzen wir also das Alleinstellungsmerkmal, welches ein Stadtquartier bietet: den Raum. Gestalten wir diesen Raum so, dass der Mensch seine Zeit dort verbringen möchte, wird er dies tun. Maßgeblich für einen menschengerechten Ort sind u.a. die Aufenthaltsqualität. Je höher die Aufenthaltsqualität, desto lebendiger der Ort. Nun steigt die Aufenthaltsqualität nicht mit dem motorisierten Verkehr, sondern vielmehr leidet sie darunter. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Grünberger Straße; der Straßenraum verfügt über eine Gesamtbreite von ca. 23 Metern, 19 Meter sind für den motorisierten Verkehr (inkl. ruhendem Verkehr) vorbehalten. Folglich bleiben zu jeder Seite zwei Meter für den Fußverkehr und 0 Meter für Radverkehr und nochmal 0 Meter Aufenthaltsqualität übrig. Das Resultat sind Leerstände, schlechte Wohnqualität und instabile Mietverhältnisse. Dafür findet man meist leicht einen Parkplatz, entsprechend der Logik ‚Parkplatz bringt Kunde‘ müsste hier der Wohlstand gedeihen.
Ein anderes Beispiel ist die Plockstraße, durch konsequente Steigerung der Aufenthaltsqualität, u.a. durch Einschränkung des Verkehrs, hat die Lage eine sehr gute Entwicklung erfahren.
Für das Marktquartier bedeutet das, vorhandene Aufenthaltsqualitäten zu verbessern und neue zu schaffen, auch durch konsequente Ersetzung des autogerechten Raums gegen menschengerechten Raum. Insbesondere ein so gestalteter Brandplatz würde die Attraktivität des gesamten Quartiers steigern und könnte neue Impulse in die ganze Stadt senden.
AUTOFAHRER GUT FÜR DEN WOHLSTAND?
Viele Städte befinden sich bereits im Wandel hin zur menschengerechten Stadt, ein oft genutztes Werkzeug ist die Förderung des Radverkehrs, das hatte nicht nur in Kopenhagen wertvolle Effekte, selbst im Big Apple setzt man verstärkt und mit großem Erfolg auf das Rad. Auch Ladenbesitzerinnen freuen sich nicht nur über LAUFkundschaft, auch Radlerinnen verbringen 40% mehr Zeit in ihren Geschäften als Autofahrer*innen. Wenn man bedenkt, dass auf einem Pkw-Stellplatz locker vier Fahrradstellplätze Platz finden, könnte man vermuten, dass sich hinter einer fahrradfreundlichen Politik ein konjunkturelles Förderprogramm verbirgt.
ZUKUNFTSFÄHIGES VERKEHRSSYSTEM BESSER GESTERN ALS HEUTE
Berechtigt und vor allem für Gießen als Oberzentrum von elementarer Bedeutung, ist die Frage danach, wie die Menschen ins Quartier kommen, die nicht in unmittelbarer Nähe wohnen, körperliche Einschränkungen haben oder Dienstleister*innen sind. Hier gilt es, möglichst schnell, effektive und attraktive Mobilitätsketten aus ÖPNV, Rad, E-Tretroller, Fußverkehr und auch Auto zu bilden. Das muss die Stadtgesellschaft, in der das Marktquartier einen sehr bedeutenden Teil einnimmt, gemeinsam fordern und fördern. Klar ist aber auch, dass 70 Parkplätze am Brandplatz nicht die Lösung sind.