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Nach einem Moment der Enttäuschung wirft Isa die Idee in die Runde, den Live-Stream auf einem öffentlichen Platz in Gießen zu zeigen. Erste Bedenken: Kriegen wir das so schnell hin? Ist das überhaupt während Corona erlaubt? Können wir schon Leute informieren, obwohl noch nichts steht? Abgehakt, wir haben zu wenig Zeit. Nächste Idee. Wir machen eine Mahnwache mit Bildern von den Opfern. Die Idee wird ausgebaut. In Windeseile bildet sich eine kleine AG über WhatsApp und das Konzept entsteht._
+++ Aufruf zum Gedenken an Hanau +++
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Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, wurde die Demo zum Gedenken an die rassistischen Anschläge in Hanau vor sechs Monaten aufgrund der steigenden Corona-Infektionen kurzfristig abgesagt. Die Sicherheitsmaßnahmen haben natürlich höchste Priorität, wir haben vollstes Verständnis für diese Entscheidung._
Trotzdem ist es uns wichtig, an die Ereignisse des 19. Februar zu erinnern und Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen zu fordern. Deshalb werden wir uns morgen ab 14.00 Uhr für etwa eine Stunde verteilt im Seltersweg (beginnend am Elefantenklo) positionieren und Plakate mit den Namen der Opfer zeigen. Alle, die morgen nach Hanau zur Demo fahren wollten, sowie alle, die sich hier gegen Rassismus stark machen wollen, rufen wir auf, sich uns anzuschließen!_
Wir tragen schwarze T-Shirts, die wir mit Klebeband versehen, auf dem #saytheirnames steht. Außerdem natürlich Masken! Ganz wichtig! Die Plakate und das Klebeband stellen wir bereit. Ihr könnt zu zweit oder in Kleingruppen (max. 10 Personen) mitmachen._
Wir freuen uns auf euch!_
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Am nächsten Tag, dem 22. August, dem Tag der abgesagten Demo, stehen Sandra, Hannah, Isa und ich vorm Copyshop in der Waagengasse. Die Mitarbeiterin kommt sogar raus und begrüßt uns freundlich. Eine super liebe und hilfsbereite Frau. Kurz vorm Reingehen ein Rückruf von Inge von den Omas gegen Rechts: „Die Omas sind dabei!“ Wir sind begeistert und lassen direkt mal zehn Plakate mehr drucken. Das fleißige Bewerben auf Insta, über den WhatsApp-Status der Mitglieder und durch gezieltes Anschreiben der üblichen Verdächtigen hat sich gelohnt. Sogar ein Streifenwagen, der die Waagengasse passiert, bleibt kurz stehen, um nach den vier freundlichen, schwarz gekleideten Menschen mit zusammengerollten Fahnen, die vorm Copyshop stehen (also nach uns), Ausschau zu halten. Dass wir Schwarz als Zeichen der Trauer um die Opfer tragen, konnten sie ja nicht wissen. Begeisterung mischt sich mit Nervosität, aber zumindest fahren unsere Aufseher*innen für den Moment weiter. Mental bereiten wir uns darauf vor, dass die Mahnwache aufgelöst werden könnte, aber gleichzeitig können wir uns nicht vorstellen, warum. Unser Konzept ist garantiert besser als die Luftschlösser, die es tausenden Fans ermöglichen sollen, Fußballspiele live in Stadien zu sehen._
Bis in die Haarspitzen motiviert legen wir noch eine kleine Bastelstunde ein, um die druckfrischen Plakate mit den Gesichtern und Namen der Opfer des Anschlags zu modifizieren. Nicht zufällig haben wir für unsere Bastelaktion die Plockstraße gewählt. Bei aller Arbeit fordert auch die Natur ihr Recht ein und so sind wir sehr dankbar für die Netten Toiletten in den dortigen Lokalitäten._
Am Elefantenklo angekommen wird es immer besser. Erst ist Lydia da und dann kommen immer mehr Menschen mit Mund-Nasen-Schutz, die wir mit den vorbereiteten Plakaten und Klebestreifen mit der Aufschrift „#saytheirnames“ ausstatten. Und das Beste: Die hören auch noch alle genau zu, wie wir uns das vorgestellt haben, damit es sauber über die Bühne geht. Es läuft besser als gedacht._
Während Isa souverän mit der Dame vom Gießener Anzeiger spricht, laufen die letzten Vorbereitungen: Alle sind mit Material versorgt und eingewiesen, die Omas gegen Rechts (sie sind einfach so toll) brennen für ihren Einsatz und wir bringen uns in Position. Wie eine Perlenkette zieht sich unsere Mahnwache durch den Seltersweg. Angefangen beim Haupteingang einer bekannten Warenhauskette, die in regelmäßigen Abständen vor dem Aus steht, reichen wir bis zu den Schwätzern. Anhand der verteilten Plakate und Klebestreifen überschlagen wir kurz: knapp 50 Leute. Krass!_
Während wir so stehen und unsere Plakate präsentieren, wäre es interessant, in die Köpfe der Vorbeigehenden sehen zu können. Einige schauen sehr interessiert zu uns, lesen, was auf den Plakaten steht, halten zum Teil einen Moment inne. Andere gucken scheinbar desinteressiert bis abgeneigt weg. Nur die Omas werden kurz etwas belästigt, weil sich jemand durch unsere Mahnwache provoziert fühlt. Es geht eben gerade um einen rassistischen Anschlag, an den wir erinnern möchten. Das hat nichts damit zu tun, dass es nicht auf furchtbar ist, wenn Menschen aus anderen „Gründen“ (eigentlich kann man gar nicht von Gründen reden, weil nichts einen Mord rechtfertigen kann), ermordet werden. Nun aber fordern wir_
ERINNERUNG, GERECHTIGKEIT, AUFKLÄRUNG, KONSEQUENZEN._
Das Alltagsgeschäft in Politik und Öffentlichkeit wird nach entsetzlichen Ereignissen wie dem rassistischen Anschlag von Hanau viel zu schnell wieder aufgenommen. Dass wir uns damit nicht abfinden wollen, können einige Menschen, die Rassismus leugnen, nicht ertragen: Wir nennen diese Menschen Rassist*innen._
Jeder Mensch hat ein Recht darauf, wegen äußerer Merkmale wie seiner Hautfarbe NICHT schlechter behandelt zu werden als irgendein anderer Mensch. Rassistische Ungerechtigkeiten dürfen nie hingenommen werden. Es gibt dabei keinen unbedeutenden Rassismus. Jede rassistische Handlung ist ein Baustein, unzählige Bausteine zusammen erschaffen ein monströses Gebilde, das Menschen ausschließt, sie benachteiligt, angreift und im schlimmsten Fall ermordet. Und warum? Das Warum bleibt unbegreiflich. Wir sind alle Menschen. Daran erinnern wir._
Unser Verein war begeistert, dass unserem in aller Schnelle gestarteten Aufruf so viele engagierte Menschen gefolgt sind, die dazu beigetragen haben, die Opfer für eine Stunde im Zentrum von Gießen wieder sichtbar zu machen, zu zeigen, dass es uns nicht egal ist, wie es weitergeht, zu zeigen, dass wir gegen Rassismus zusammenstehen._
Wir trauern um:_
Ferhat Unvar_
Mercedes Kierpacz_
Sedat Gürbüz_
Gökhan Gültekin_
Hamza Kurtović_
Kaloyan Velkov_
Vili Viorel Păun_
Said Nesar Hashemi_
Fatih Saraçoğlu_
Gabriele Rathjen_
Dennis