Internationaler Holocaust-Gedenktag

Heute sollte eigentlich ein Feiertag sein. Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Deswegen gilt dieses Datum seit 2005 international als Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust. Der jüdische Weltkongress möchte mit der #WeRemember Kampagne erreichen, dass dieser Tag zum weltweiten Feiertag wird.
Dafür gibt es gute Gründe:
Erstarkender Rechtsextremismus. Geschichtsverdrossenheit. Immer weniger Zeitzeugen. Die ewige Forderung, dass es doch “langsam mal genug” sein muss.


Wir sehen das anders!

Je weniger Menschen uns von ihren Erfahrungen im Holocaust erzählen können, desto mehr wird es zu unserer Aufgabe, an die Ereignisse von damals zu erinnern und daraus Konsequenzen für unser Handeln heute zu ziehen. Deshalb sagen wir:

We remember!

Hanau in Gießen – „Wir vergessen nicht“

Der Plan für den Vereinsausflug nach Hanau steht. Für den 22. August haben die Vereinsmitglieder, die an der Demo zum Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau teilnehmen wollen, gerade vereinbart, wie die Anreise vonstattengehen soll. Und dann das… 21.32 Uhr Diane leitet an die WhatsApp-Gruppe eine Nachricht weiter, dass die Demo in ihrer ursprünglichen Form abgesagt wurde und es einen Live-Stream geben wird.

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Nach einem Moment der Enttäuschung wirft Isa die Idee in die Runde, den Live-Stream auf einem öffentlichen Platz in Gießen zu zeigen. Erste Bedenken: Kriegen wir das so schnell hin? Ist das überhaupt während Corona erlaubt? Können wir schon Leute informieren, obwohl noch nichts steht? Abgehakt, wir haben zu wenig Zeit. Nächste Idee. Wir machen eine Mahnwache mit Bildern von den Opfern. Die Idee wird ausgebaut. In Windeseile bildet sich eine kleine AG über WhatsApp und das Konzept entsteht.

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+++ Aufruf zum Gedenken an Hanau +++

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Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, wurde die Demo zum Gedenken an die rassistischen Anschläge in Hanau vor sechs Monaten aufgrund der steigenden Corona-Infektionen kurzfristig abgesagt. Die Sicherheitsmaßnahmen haben natürlich höchste Priorität, wir haben vollstes Verständnis für diese Entscheidung.

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Trotzdem ist es uns wichtig, an die Ereignisse des 19. Februar zu erinnern und Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen zu fordern. Deshalb werden wir uns morgen ab 14.00 Uhr für etwa eine Stunde verteilt im Seltersweg (beginnend am Elefantenklo) positionieren und Plakate mit den Namen der Opfer zeigen. Alle, die morgen nach Hanau zur Demo fahren wollten, sowie alle, die sich hier gegen Rassismus stark machen wollen, rufen wir auf, sich uns anzuschließen!

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Wir tragen schwarze T-Shirts, die wir mit Klebeband versehen, auf dem #saytheirnames steht. Außerdem natürlich Masken! Ganz wichtig! Die Plakate und das Klebeband stellen wir bereit. Ihr könnt zu zweit oder in Kleingruppen (max. 10 Personen) mitmachen.

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Wir freuen uns auf euch!

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Dass in dem blitzschnell von Hannah verfassten Text das Datum nicht direkt benannt ist und ein deiktischer Begriff wie „morgen“ für Verwirrung sorgen könnte, fällt niemandem auf. Wenn die Zeit drängt und viel zu tun ist, ist das aber normal. Schnell ließ sich das Problem später klären und alles nahm seinen Lauf.

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Am nächsten Tag, dem 22. August, dem Tag der abgesagten Demo, stehen Sandra, Hannah, Isa und ich vorm Copyshop in der Waagengasse. Die Mitarbeiterin kommt sogar raus und begrüßt uns freundlich. Eine super liebe und hilfsbereite Frau. Kurz vorm Reingehen ein Rückruf von Inge von den Omas gegen Rechts: „Die Omas sind dabei!“ Wir sind begeistert und lassen direkt mal zehn Plakate mehr drucken. Das fleißige Bewerben auf Insta, über den WhatsApp-Status der Mitglieder und durch gezieltes Anschreiben der üblichen Verdächtigen hat sich gelohnt. Sogar ein Streifenwagen, der die Waagengasse passiert, bleibt kurz stehen, um nach den vier freundlichen, schwarz gekleideten Menschen mit zusammengerollten Fahnen, die vorm Copyshop stehen (also nach uns), Ausschau zu halten. Dass wir Schwarz als Zeichen der Trauer um die Opfer tragen, konnten sie ja nicht wissen. Begeisterung mischt sich mit Nervosität, aber zumindest fahren unsere Aufseher*innen für den Moment weiter. Mental bereiten wir uns darauf vor, dass die Mahnwache aufgelöst werden könnte, aber gleichzeitig können wir uns nicht vorstellen, warum. Unser Konzept ist garantiert besser als die Luftschlösser, die es tausenden Fans ermöglichen sollen, Fußballspiele live in Stadien zu sehen.

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Bis in die Haarspitzen motiviert legen wir noch eine kleine Bastelstunde ein, um die druckfrischen Plakate mit den Gesichtern und Namen der Opfer des Anschlags zu modifizieren. Nicht zufällig haben wir für unsere Bastelaktion die Plockstraße gewählt. Bei aller Arbeit fordert auch die Natur ihr Recht ein und so sind wir sehr dankbar für die Netten Toiletten in den dortigen Lokalitäten.

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Am Elefantenklo angekommen wird es immer besser. Erst ist Lydia da und dann kommen immer mehr Menschen mit Mund-Nasen-Schutz, die wir mit den vorbereiteten Plakaten und Klebestreifen mit der Aufschrift „#saytheirnames“ ausstatten. Und das Beste: Die hören auch noch alle genau zu, wie wir uns das vorgestellt haben, damit es sauber über die Bühne geht. Es läuft besser als gedacht.

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Während Isa souverän mit der Dame vom Gießener Anzeiger spricht, laufen die letzten Vorbereitungen: Alle sind mit Material versorgt und eingewiesen, die Omas gegen Rechts (sie sind einfach so toll) brennen für ihren Einsatz und wir bringen uns in Position. Wie eine Perlenkette zieht sich unsere Mahnwache durch den Seltersweg. Angefangen beim Haupteingang einer bekannten Warenhauskette, die in regelmäßigen Abständen vor dem Aus steht, reichen wir bis zu den Schwätzern. Anhand der verteilten Plakate und Klebestreifen überschlagen wir kurz: knapp 50 Leute. Krass!

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Während wir so stehen und unsere Plakate präsentieren, wäre es interessant, in die Köpfe der Vorbeigehenden sehen zu können. Einige schauen sehr interessiert zu uns, lesen, was auf den Plakaten steht, halten zum Teil einen Moment inne. Andere gucken scheinbar desinteressiert bis abgeneigt weg. Nur die Omas werden kurz etwas belästigt, weil sich jemand durch unsere Mahnwache provoziert fühlt. Es geht eben gerade um einen rassistischen Anschlag, an den wir erinnern möchten. Das hat nichts damit zu tun, dass es nicht auf furchtbar ist, wenn Menschen aus anderen „Gründen“ (eigentlich kann man gar nicht von Gründen reden, weil nichts einen Mord rechtfertigen kann), ermordet werden. Nun aber fordern wir

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ERINNERUNG, GERECHTIGKEIT, AUFKLÄRUNG, KONSEQUENZEN.

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Das Alltagsgeschäft in Politik und Öffentlichkeit wird nach entsetzlichen Ereignissen wie dem rassistischen Anschlag von Hanau viel zu schnell wieder aufgenommen. Dass wir uns damit nicht abfinden wollen, können einige Menschen, die Rassismus leugnen, nicht ertragen: Wir nennen diese Menschen Rassist*innen.

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Jeder Mensch hat ein Recht darauf, wegen äußerer Merkmale wie seiner Hautfarbe NICHT schlechter behandelt zu werden als irgendein anderer Mensch. Rassistische Ungerechtigkeiten dürfen nie hingenommen werden. Es gibt dabei keinen unbedeutenden Rassismus. Jede rassistische Handlung ist ein Baustein, unzählige Bausteine zusammen erschaffen ein monströses Gebilde, das Menschen ausschließt, sie benachteiligt, angreift und im schlimmsten Fall ermordet. Und warum? Das Warum bleibt unbegreiflich. Wir sind alle Menschen. Daran erinnern wir.

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Unser Verein war begeistert, dass unserem in aller Schnelle gestarteten Aufruf so viele engagierte Menschen gefolgt sind, die dazu beigetragen haben, die Opfer für eine Stunde im Zentrum von Gießen wieder sichtbar zu machen, zu zeigen, dass es uns nicht egal ist, wie es weitergeht, zu zeigen, dass wir gegen Rassismus zusammenstehen.

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Wir trauern um:

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Ferhat Unvar

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Mercedes Kierpacz

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Sedat Gürbüz

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Gökhan Gültekin

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Hamza Kurtović

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Kaloyan Velkov

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Vili Viorel Păun

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Said Nesar Hashemi

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Fatih Saraçoğlu

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Gabriele Rathjen

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Dennis

„Abandoned“ – Filmvorführung mit Gespräch am 04.03.2020 im Kinocenter Gießen

„Ich will die Welt verändern – das ist ganz banal.“

Anlässlich des Weltfrauentags hatten wir die österreichische Regisseurin Patricia Marchart nach Gießen eingeladen. In ihrem Film „Abandoned“ (im Stich gelassen) sprechen Frauen, denen eine Abtreibung trotz medizinischer Notwendigkeit verweigert wurde, von ihren Erfahrungen. Dass wir zudem Kristina Hänel für ein Grußwort gewinnen konnten, war ein absoluter Glücksfall und führte in der Summe zu einem aufwühlenden und informativen Kinoabend. Isa Espanion und Dennis Koch von mitmission führten durchs Programm, zu dessen Auftakt Martin Otto klarstellte, dass es ihm wichtig sei, auch unangenehmen Themen in seinem Kino einen Raum zu geben. Neben den beklemmenden Berichten der Betroffenen im Film dürfte vor allem das anschließende Gespräch mit Patricia Marchart vielen im Gedächtnis bleiben. Für sie war der Besuch in Gießen ganz augenscheinlich keine Routineveranstaltung, kein Zwischenstopp auf einer dicht gestaffelten Promotion-Tour. Mehrfach rang sie um Worte, etwa als sie erklärte, dass ihr schonungsloser Stil wohl nicht kompatibel sei mit den Vorstellungen einschlägiger Festival-Veranstalterinnen und Programmdirektorinnen deutschsprachiger Fernsehsender. Ihre Doppelrolle als Filmemacherin und Aktivistin offenbarte sich spätestens auf die Frage, welche persönlichen Motive dem Projekt zugrunde lägen: „Ich will die Welt verändern – das ist ganz banal.“ Dafür, dass sie dies tut, indem sie betroffenen Frauen und ihren Angehörigen eine Stimme verleiht, erntete sie mehrfach Applaus von den Anwesenden.

Dennis Koch von mitmission e.V. mit der Regisseurin Patricia Marchart

Für unseren Verein war die Veranstaltung ein Riesenerfolg. Exakt einhundert Leute kamen ins Kinocenter und sahen einen Film, der evidente Missstände in verschiedenen europäischen Ländern abbildet, den jedoch die breite Öffentlichkeit leider nicht wahrnehmen wird. Für diesen Erfolg danken wir allen Beteiligten, insbesondere Patricia Marchart, Martin Otto und Kristina Hänel sowie unseren Unterstützer*innen vom internationalen Graduiertenzentrum für Kulturwissenschaften (GCSC) der Uni Gießen, vom FrauenKulturZentrum Gießen und vom Aktionsbündnis ProChoice Gießen.

Großes Interesse im Kinocenter Gießen

Hier kannst du außerdem den Zeitungsartikel des Gießener Anzeigers vom 7. März 2020 über die Veranstatung nachlesen.

 

Von großen Füßen und kleinen Schritten

Mit Andi (1) beim Mensen fällt das Gespräch auf das Lieblingsthema aller Männer: Schuhe. Seit er letztes Jahr bei unserer Mitmission-Movie-Night “The True Cost” gesehen hat, fällt ihm der Schuhkauf leider ziemlich schwer. Er legt jetzt nämlich größeren Wert darauf, dass seine Sneakers fair gefertigt, also ‚gefairtigt‘ (kleine Wortspielerei am Rande), werden und idealerweise noch nachhaltig sind. Schön, dass der Film so einen bleibenden Eindruck hinterlassen hat, doof nur, dass Andis neue Kaufkriterien schon eine Einschränkung sind. Und dann hat der Gute auch noch Schuhgröße 46. Besonders dann wird dies zur Herausforderung, wenn man außerdem noch auf Kriegsfuß mit namhaften Online-Versandriesen steht. Am Ende hat es auch nicht so ganz geklappt und Andi wollte eher nicht zu den Barfüßlern überlaufen, aber als Konsument hat er auf jeden Fall sehr bewusst gehandelt.

 

Im WhatsApp-Chat erfahre ich von Daniela, dass sie hinsichtlich ihres USA-Urlaubs mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern sehr gemischte Gefühle hat. Sie freut sich darauf, ihren Kindern so viel zeigen zu können und natürlich auch selbst neue Eindrücke zu sammeln und eine uns vermeintlich so vertraute Kultur zu erleben. Gleichzeitig bereitet ihr der mächtige CO2-Fußabdruck dieses Urlaubs etwas Bauchschmerzen. Sie unternimmt diese Reise einerseits für ihre Kinder, um ihnen etwas bieten zu können, andererseits ist es ihr in Zeiten von Fridays for Future gegenwärtiger denn je, dass wir etwas ändern müssen, dass wir entschlossenen Klimaschutz brauchen, um der heranwachsenden Generation eine Zukunft mit noch lösbaren Problemen bieten zu können. Sich während des Urlaubs den Kopf zu zerbrechen, wäre unsinnig, weil man sich die Reise dann hätte sparen können, das ist ihr klar. Im Bewusstsein ihrer Verantwortung macht sie sich aber schon Gedanken, wie sie CO2 einsparen kann. Das ist ihr vielleicht nicht bewusst, aber mit der Erziehung ihrer Kinder zu umweltbewussten Menschen leistet sie einen wichtigen Beitrag. Das muss ich ihr mal sagen.

 

Beim ESC-Schauen (Eurovision Song Contest) bei Christoph – auch schon wieder eine Weile her – unterhalten wir uns in kleiner Runde, also Christoph und ich, über den Unverpackt-Laden in Gießen, der mittlerweile etwas expandiert hat. Beim ESC hatte der Laden aber noch seine alte Größe und da Christoph mit seiner Frau und der einjährigen Tochter nun nach Bremen gezogen ist – DAS war vielleicht ein Umzug – wird er im vergrößerten Unverpackt-Laden wohl seltener anzutreffen sein. Wir unterhalten uns also über den Laden, weil von Mal zu Mal, wenn ich zu Besuch bin, mehr Schraubgläser im Küchenregal stehen. Reis, Rosinen, Nüsse und einiges mehr findet sich dort nun in ansprechenden Gläsern und zeigt allen Besucher_innen, dass diese Lebensmittel auch wunderbar ohne Plastik aufbewahrt werden können. Dass wir heute Antipasti aus Plastikverpackungen essen, sei eine Ausnahme, entschuldigt er sich schon fast. Da ich noch über die vielen Gläser staune, nehme ich das nur so halb wahr, aber es scheint ihm wirklich ein schlechtes Gewissen zu machen, dass bei unserem ESC-Abend Plastikmüll anfällt. Vorbildlich habe ich selbstgemachte Pizzateigschnecken dabei; die Plastikverpackungen der Zutaten sind bei mir in der WG im Müll (vielleicht doch nicht so vorbildlich). Trotzdem haben wir einen super Abend, der auch durch das schon fast traditionell schlechte Abschneiden des deutschen Beitrags nicht weniger schön wird. Der Griff zu den Snacks ist diesmal aber deutlich bewusster. Den nächsten ESC sollten wir plastikfrei hinbekommen.

 

Drei kleine Anekdoten, die mittlerweile hoffentlich einen roten Faden erkennen lassen: Sie zeigen in kurzen Ausschnitten, dass gerade einiges beim Klima- und Umweltschutz in Bewegung ist, was mich hoffen lässt. Es wird nicht reichen, auf die Unterstützung der eher schwerfälligen Politik zu warten, die sich dieser Tage mehr mit sich selbst, ihrer Wirkung auf potentielle Wähler_innen und diesem noch immer mysteriös anmutenden Internet beschäftigt. Daniela, die gerade in den USA ist, verriet mir, dass ihr der Umweltschutz mit etwas Unterstützung durch gesetzliche Verbindlichkeit deutlich leichter fiele. Im Warten auf diese Hilfe, können wir uns aber alle Schritt für Schritt bemühen, unseren eigenen Beitrag zu leisten. Es wäre gut, wenn wir all unsere klimaschädlichen Gewohnheiten sofort hinter uns lassen könnten, aber das gelingt nur den Wenigsten. Und wie bei einer schlechten Diät hält man es einfach nicht durch und wird rückfällig. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und deshalb plädiere ich dafür, nicht aus Überforderung zu resignieren, sondern langsam persönliche Fortschritte zu einem nachhaltigeren Leben zu machen. Klingt doch machbar. Mach doch mit!

 

(1) Alle Namen wurden geändert, die Ereignisse und Personen sind aber real.

 

Ein paar Links zur Anregung:

https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/aldi-plastiktueten-kosten-beutel-gemuese-obst-1.4480982

https://www.tagesschau.de/wirtschaft/gruene-amazon-101.html

https://utopia.de/eu-verbietet-einwegplastik-109824/

https://fridaysforfuture.de/

Dennis Koch

AUTO- ODER MENSCHENGERECHTES MARKTQUARTIER?

 

Ein Artikel der raumstation3539

 

die Auswirkungen des Onlinehandels auf den stationären Handel sind weitgehend bekannt und besprochen. Doch in der digitalisierten Welt verändert nicht nur Amazon unsere Innenstädte, sondern auch Netflix, WhatsApp, Facebook, Lieferando und das Home-Office.

Die Tatsache, dass dadurch nicht „nur“ der Einzelhandel, sondern auch ganze Stadtquartiere unter Druck geraten, hat der BID Marktquartier erkannt und stellt Überlegungen an, wie man lebendige Quartiere vor diesen Verwerfungen schützen und für die Zukunft entwickeln kann.

 

DIE AUTOGERECHTE STADT ALS ANTWORT?

In den 1920er und 30er Jahren erdacht und im Wiederaufbau der 50er und 60er umgesetzt sollte die autogerechte Stadt die nötige Infrastruktur für das 20. Jahrhundert bieten. Dazu gehörte auch die Logik des ‚Kundenparkplatzes direkt vor dem Laden‘.

Doch haben sich zwischenzeitlich u.a. folgende Bedingungen grundlegend geändert:

  • Räumlicher Mangel

Zu Beginn der autogerechten Stadt konnte das geringe Verkehrsaufkommen gut bewältigt werden und jede*r fand den (Park-) Raum den man benötigte. Doch schnell zeigte sich: wer Verkehr sät, erntet ihn auch. Und so ist es schon seit den 1980ern der Fall, dass die räumlichen Kapazitäten für den motorisierten Individualverkehr erschöpft sind und schon lange nicht mehr ausreichend Parkflächen zur Verfügung gestellt werden können.

  • Keine Notwendigkeit ‚in die Stadt‘ zu fahren

Vor dem Onlinehandel waren die Menschen auf das Angebot der Stadt angewiesen; wer nicht zum Geschäft fahren/laufen konnte, konnte sich beispielsweise nicht mit Kleidung versorgen. Heute werden Innenstädte weniger als Versorgungszentren wahrgenommen, sondern dienen vielmehr als Umfeld für die individuelle Freizeitgestaltung: soziale Kontakte, Kultur, Kulinarik, Shoppen als Erlebnis, Ausgehen, Bewegung und Sport – oder auch einfach die Entspannung im Park.

Dies bedeutet, die autogerechte Stadt kann den veränderten Bedingungen schlichtweg nicht mehr gerecht werden. Es muss ein neues, den Anforderungen entsprechendes Konzept her.

 

UND JETZT!?

Wenn man die Innenstädte am Leben halten und weiterentwickeln möchte, muss man sie also dem veränderten Bedarf anpassen: dem Raum für individuelle Freizeitgestaltung (wie bereits oben aufgezählt: soziale Kontakte, Kultur, Kulinarik, Shoppen als Erlebnis, Ausgehen, Bewegung und Sport oder auch einfach die Entspannung im Park). Aber wie muss das Angebot aussehen, um die neue Art der Nachfrage zu befriedigen? Welches Alleinstellungsmerkmal hat das lebendige Marktquartier? Was lockt die Menschen dorthin? Möchten Sie Ihre Freizeit auf einem Parkplatz verbringen?

 

DIE MENSCHENGERECHTE STADT ALS ANTWORT!

Nutzen wir also das Alleinstellungsmerkmal, welches ein Stadtquartier bietet: den Raum. Gestalten wir diesen Raum so, dass der Mensch seine Zeit dort verbringen möchte, wird er dies tun. Maßgeblich für einen menschengerechten Ort sind u.a. die Aufenthaltsqualität. Je höher die Aufenthaltsqualität, desto lebendiger der Ort. Nun steigt die Aufenthaltsqualität nicht mit dem motorisierten Verkehr, sondern vielmehr leidet sie darunter. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Grünberger Straße; der Straßenraum verfügt über eine Gesamtbreite von ca. 23 Metern, 19 Meter sind für den motorisierten Verkehr (inkl. ruhendem Verkehr) vorbehalten. Folglich bleiben zu jeder Seite zwei Meter für den Fußverkehr und 0 Meter für Radverkehr und nochmal 0 Meter Aufenthaltsqualität übrig. Das Resultat sind Leerstände, schlechte Wohnqualität und instabile Mietverhältnisse. Dafür findet man meist leicht einen Parkplatz, entsprechend der Logik ‚Parkplatz bringt Kunde‘ müsste hier der Wohlstand gedeihen.

Ein anderes Beispiel ist die Plockstraße, durch konsequente Steigerung der Aufenthaltsqualität, u.a. durch Einschränkung des Verkehrs, hat die Lage eine sehr gute Entwicklung erfahren.

 

Für das Marktquartier bedeutet das, vorhandene Aufenthaltsqualitäten zu verbessern und neue zu schaffen, auch durch konsequente Ersetzung des autogerechten Raums gegen menschengerechten Raum. Insbesondere ein so gestalteter Brandplatz würde die Attraktivität des gesamten Quartiers steigern und könnte neue Impulse in die ganze Stadt senden.

 

AUTOFAHRER GUT FÜR DEN WOHLSTAND?

Viele Städte befinden sich bereits im Wandel hin zur menschengerechten Stadt, ein oft genutztes Werkzeug ist die Förderung des Radverkehrs, das hatte nicht nur in Kopenhagen wertvolle Effekte, selbst im Big Apple setzt man verstärkt und mit großem Erfolg auf das Rad. Auch Ladenbesitzerinnen freuen sich nicht nur über LAUFkundschaft, auch Radlerinnen verbringen 40% mehr Zeit in ihren Geschäften als Autofahrer*innen. Wenn man bedenkt, dass auf einem Pkw-Stellplatz locker vier Fahrradstellplätze Platz finden, könnte man vermuten, dass sich hinter einer fahrradfreundlichen Politik ein konjunkturelles Förderprogramm verbirgt.

 

ZUKUNFTSFÄHIGES VERKEHRSSYSTEM BESSER GESTERN ALS HEUTE

Berechtigt und vor allem für Gießen als Oberzentrum von elementarer Bedeutung, ist die Frage danach, wie die Menschen ins Quartier kommen, die nicht in unmittelbarer Nähe wohnen, körperliche Einschränkungen haben oder Dienstleister*innen sind. Hier gilt es, möglichst schnell, effektive und attraktive Mobilitätsketten aus ÖPNV, Rad, E-Tretroller, Fußverkehr und auch Auto zu bilden. Das muss die Stadtgesellschaft, in der das Marktquartier einen sehr bedeutenden Teil einnimmt, gemeinsam fordern und fördern. Klar ist aber auch, dass 70 Parkplätze am Brandplatz nicht die Lösung sind.

Wenn es kalt wird

Ich bin auf dem Heimweg von Freund_innen. Wir hatten einen schönen Abend: viel geschnackt – ich vielleicht ein bisschen mehr als die anderen – Guacamole gegessen mit Brötchen, Nachos waren aus, die von der Tanke eindeutig zu teuer. Auch ohne Nachos war es ein wunderbarer Abschied vom Wochenende und von Jascha, für den geht’s morgen wieder nach Österreich.

Es ist kalt, aber ich mag es so. Hitze und Schwitzen sind echt nicht meins. Bis zu einem gewissen Grad (Wortwitz) kann man sich immer dicker anziehen, dünner geht irgendwann nicht mehr und dann klebt auch noch jedes Bisschen Stoff an einem und man selbst klebt ja auch. Zwischenfazit: Kalter sonniger Winter schlägt heißen sonnigen Rekordsommer um Längen. So fahre ich also mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck nach dem gelungenen Abend auf meinem Rad durch die nächtliche Kälte zu meiner WG zurück. Einmal quer durch die Stadt, aber ich bin dick angezogen und bewege mich ja, da machen mir die -7°C nichts aus. Es gefällt mir sogar, weil ich weiß, dass ich bei der Steigung der Licher Straße überhaupt nicht schwitzen werde. Es wird einfach nur schön warm.

Als ich aber bei der Licher ankomme, würde ich gern schwitzen. Das würde nämlich bedeuten, dass der Obdachlose, den ich gerade beim Zeughaus auf einer Bank liegen sah, nicht so verdammt frieren muss. Aus Richtung Döner-Dreieck kommend rollte ich auf meinem Sattel vorbei und dachte „nein“. Schluss mit Genießen der eisigen Temperaturen, die waren schlagartig für einen anderen Menschen eine Gefahr, lebensbedrohlich. Ich würde ihn am liebsten mitnehmen, aber ich kann ihn ja nicht einfach über mein Rad legen und weiterfahren. Warum liegt er da? Warum hilft ihm niemand? Warum helfe ich ihm nicht? Ich bleibe kurz stehen. Ich kann wenigstens hingehen und ihn fragen, wie es ihm geht. Und dann? Was ist das für eine schwachsinnige Frage? Wie wird es ihm wohl gehen… Es ist arschkalt.

Er liegt da – und mit dem folgenden Ausdruck möchte ich ihn gewiss nicht verhöhnen – kunstvoll eingepackt in alles Mögliche: Zeitungen, Tüten, ein Handtuch und darunter sicher noch mehr. Wenn ich ihn jetzt wecke und er im Schreck aufspringt, muss er alles neu machen, weil ich noch nicht weitergedacht habe und keine Alternative für ihn habe. Ich brauche eine andere Lösung. Ich fahre schneller, die Gedanken drehen sich. Endlich daheim. Ich schreibe Christian, der hat bestimmt eine Idee. Ich kann nicht auf die Antwort warten und rufe bei der Polizeistation beim Berliner Platz an. Ein Polizist nimmt ab, er meldet sich, ich melde mich. Ich sage: „Ich weiß nicht, was genau ich mir von diesem Anruf erwarte.“ Dann erkläre ich ihm, was ich gesehen habe, dass ich überfordert war und den Mann (War es überhaupt ein Mann?) ja schlecht über mein Rad legen und weiterfahren konnte. Der Polizist lacht kurz, er klingt sehr freundlich. „Wir schauen uns das mal an“, sagt er. Er bedankt sich für meinen Anruf, wir legen auf. Mein Gewissen ist nicht beruhigt, darum ging es auch nicht. Ich fühle mich schlecht, weil ich Angst habe, dass es schon zu spät ist.

Christian, dem ich direkt von meinem Anruf bei dem Polizisten geschrieben habe, antwortet. Er meint, ich habe alles richtig gemacht, und erklärt noch kurz, was eine Streife nun unternehmen wird: Hinfahren, ansprechen, auf die Obdachlosenunterkunft verweisen oder hinbringen. Und wenn er da rausgeflogen ist, denke ich mir. Ich bin Christian aber sehr dankbar, seine Nachricht hat mich etwas beruhigt.

Fazit: Heute Nacht mag ich die Kälte überhaupt nicht. Sie kann mir nichts tun, weil ich in meinem beheizten Zimmer an meinem Schreibtisch sitze und aufschreiben kann, was auf meinem Heimweg von Freund_innen passiert ist. Der Mensch auf der Bank hat dieses Glück nicht. Ich hoffe, dass es ihm gut geht. Hans Christian Andersens Mädchen mit den Schwefelhölzern kommt mir in den Sinn.

 

Wer wie ich spontan nicht weiß, wie man Obdachlosen am besten durch die kalte Jahreszeit hilft, erfährt hier, was man tun kann:

https://www.mz-web.de/leben/lebensrettung-so-koennen-sie-obdachlosen-im-winter-helfen-25256928

https://www.youtube.com/watch?v=3WBrs-tlt5E

 

Sind Obdachlose unzureichend vor Kälte geschützt, droht Tod durch Erfrieren:

https://www.berliner-kurier.de/berlin/polizei-und-justiz/erster-kaeltetoter-in-diesem-jahr–obdachloser-liegt-tot-auf-parkbank-im-humboldthain-31906688

 

Dennis Koch

Was passiert mit mir, wenn ich sterbe? – Das Recht auf Selbstbestimmung

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Ein Thema, was oftmals Beklemmungen auslöst und unangenehme Fragen aufwirft: Was passiert mit mir, wenn ich sterbe?

Die eigene Vergänglichkeit weckt in mir persönlich Ängste, die ich gar nicht so richtig beschreiben kann und hinterlässt oftmals ein Gefühl von Unbehaglichkeit und Ungewissheit. Dennoch können wir einige sehr wichtige Entscheidungen über unseren Tod und all das, was mit uns geschieht, schon jetzt bestimmen. Mit Hilfe eines Testaments, einer Patientenverfügung oder auch eines Organspendeausweises.

Als ich anfing, mich mit dieser Thematik zu beschäftigen, hielt ich es oftmals nur wenige Minuten aus, mir tatsächlich Gedanken über meinen Tod zu machen. Entscheidungen, die getroffen werden sollten, schob ich vor mir her und redete mir immer wieder ein, dass das ganze ja noch Zeit habe.

Was aber, wenn ich durch einen Unfall ins Koma falle, wenn ich krank werde und meinen Willen auf einmal nicht mehr äußern kann und andere diese Entscheidungen für mich treffen müssen?

Ich wollte diese Entscheidungen meinen Angehörigen und meinem Partner abnehmen und von meinem Persönlichkeitsrecht Gebrauch machen.

Am wichtigsten erschien mir hierbei der Frage nachzugehen, was mit mir geschieht, wenn ich ins Koma falle?! Ich fing an zu recherchieren und lud mir das Muster einer Patientenverfügung herunter. Besonders wichtig war mir hierbei, dass ich das Dokument von einem offiziellen Ministerium benutze, um alle Details zu beachten, die es braucht, um rechtskräftig zu werden.

In einer solchen Patientenverfügung kannst du festlegen, ob du im Falle eines Falles wiederbelebt, künstlich beatmet oder ernährt werden möchtest oder eben auch nicht. Aber auch, wie lange lebensverlängernde Maßnahmen angewendet werden. Kurzum – es geht um die medizinische Versorgung. Natürlich sind all das keine Entscheidungen, die man innerhalb weniger Minuten treffen kann. Aus diesem Grund kannst du auch mit Ärztinnen und Ärzten relativ problemlos darüber sprechen. Generell kann ich dir nur empfehlen, dir die Zeit zu nehmen, die du brauchst und keine voreiligen Entschlüsse zu treffen. Denn eine solche Verfügung ist ohne Beglaubigung und nach deiner Unterschrift bereits rechtskräftig. All das bringt jedoch nichts, wenn niemand über deine Wünsche informiert ist. Also der Appell: Sprich mit Freund*Innen, Verwandten, deiner Partnerin oder deinem Partner darüber und informiere sie über den Ort der Aufbewahrung. Nur so können deine Wünsche beachtet werden.

Ähnliches gilt übrigens für das Testament. Jede*r hat ab dem 18. Lebensjahr das Recht, ein Testament zu verfassen. Auch hierbei reicht ein handschriftliches Dokument, was du persönlich unterschreibst. Natürlich kannst du deinen Nachlass auch notariell beglaubigen lassen, musst du aber nicht. Besonders wichtig beim Verfassen eines Testaments ist es, Erben zu bestimmen. Diese erben neben materiellem Gut auch deine Rechte und Pflichten, was du unter keinen Umständen unterschätzen solltest. Achte hierbei besonders auf die Formulierungen. Erben und Vermachen sind zwei unterschiedliche Dinge: Beim Vermachen geht es lediglich um materielle Güter, ganz ohne weitere Pflichten.

In Zeiten der Digitalisierung darf natürlich auch dein digitaler Nachlass nicht in Vergessenheit geraten. Der Verbraucherschutz rät deshalb auf der Seite www.machts-gut.de: Leg fest, wer das Recht hat, sich um deine Daten im Internet zu kümmern. Schreibe deine Passwörter auf, verstaue sie an einem sicheren Ort, den aber mindestens eine, dir nahestehende Person kennt und unterschreibe ihn handschriftlich. So machst du es deinen Hinterbliebenen nicht nur leichter, sondern bewahrst sie auch vor vielen Schwierigkeiten. Denn nur wenige Unternehmen haben bisher eine eindeutige Regelung getroffen, was mit den Daten von Verstorbenen geschieht.

Ein weiterer Aspekt, mit dem ich mich auseinandersetzen wollte, war mein bereits ausgefüllter, in meinem Geldbeutel weit hinten gelagerter Organspendeausweis. Es gilt das gleiche, wie bei der Patientenverfügung: Habe ich zu Lebzeiten keine Entscheidung darüber getroffen, müssen dies Angehörige tun. Warum also meine Hinterbliebenen mit einer solchen Entscheidung belasten?! Grundvoraussetzung einer Organspende ist die Feststellung des Hirntods, also des unumkehrbaren Ausfalls der gesamten Hirnfunktion. Großhirn, Kleinhirn und Stammhirn dürfen hierbei keinerlei Funktionen mehr aufweisen, da ansonsten noch nicht von einem Hirntod gesprochen werden und keine Organspende durchgeführt werden darf. Und das nicht nur durch eine*n, sondern durch mehrere unabhängige und erfahrene Fachärzt*Innen. Diese müssen ein von der Bundesärztekammer festgelegtes Vorgehen beachten und dürfen nach der Feststellung auch nicht an Organentnahme oder der Transplantation teilnehmen.

Natürlich kannst du bei einem Organspendeausweis auch von deinem Recht Gebrauch machen, dass du unter keinen Umständen einer postmortalen Organspende zustimmst. Auch diese Entscheidung hast du somit Verwandten abgenommen und hast dich selbst für deine Rechte eingesetzt.

Es bleibt also festzuhalten: Wer seine Entscheidungen eigenständig treffen möchte, Hinterbliebene entlasten und auch schützen möchte, sollte sich dringend mit dieser Thematik beschäftigen. Denn immer noch viel zu wenige (vor allem junge) Menschen haben einen Organspendeausweis, eine Patientenverfügung oder ein Testament. Genau aus diesem Grund möchte der Tag der Organspende heute darauf aufmerksam machen. Vielleicht ist das auch für dich ein passender Anlass, dich zu informieren und eine lebenswichtige Entscheidung zu treffen.

 

Weitere Informationen findest du hier:

Was Sie zum Organspendeausweis wissen sollten.

Fakten zum Hirntod.

#machsgut – Kampagne zum digitalen Nachlass gestartet

Patientenverfügung

Abtreibung – leicht gemacht?

Irland hat’s vorgemacht. Im katholisch dominierten, lange Zeit erzkonservativen Irland war die Legalisierung der Abtreibung nicht denkbar. Doch wo immer Abtreibungen illegal sind, verschwindet nicht auf einmal der Bedarf. Sie werden immer noch durchgeführt, doch nicht mehr in Kliniken und Praxen qualifizierter Mediziner_innen, was verheerende Folgen hat: Frauen werden unfruchtbar, erleiden eine Sepsis, verbluten und werden psychisch schwer traumatisiert. Wurden sie in Irland dann noch erwischt, drohte ihnen bis zu 14 Jahre Haft. Diese Horrorszenarien trafen zwar nicht auf jede Frau zu, die sich in Irland für einen Schwangerschaftsabbruch entschied, da viele Frauen nach England reisten, aber es gab sie. Nun aber ist dieses dunkle Kapitel irischer Rechtsprechung mit dem klaren Ergebnis von 66,4 Prozent für die Lockerung des strikten Abtreibeverbots hoffentlich bald Geschichte.

 

In Deutschland wurde im Kampf für die Selbstbestimmung der Frau über ihren Körper bereits 1974 ein wichtiger Erfolg erzielt. Unter großem Protest und mit einem aufsehenerregenden Titelblatt des Stern, auf dem Frauenportraits unter der Überschrift „Ich habe abgetrieben“ zu sehen waren, errang man zumindest eine Reform des § 218 StGB, der Abtreibung unter Strafe stellt. Abgeschafft wurde er allerdings nicht. Stattdessen einigte man sich auf die sogenannte Fristenlösung, die es Frauen ermöglicht, innerhalb der ersten zwölf Schwangerschaftswochen straffrei eine Abtreibung von einem Facharzt oder einer Fachärztin durchführen zu lassen, wenn sie zuvor eine Schwangerschaftskonfliktberatung durchlaufen hat und noch drei Tage Bedenkzeit zwischen Beratung und Abbruch hatte.

 

Frauen und Mediziner_innen arrangierten sich mit dieser Reglung. Sie hat immer noch massive Probleme, weil sie Frauen in ihrer Entscheidung über ihren Körper teilweise entmündigt, sie kriminalisiert, Ärzt_innen ebenfalls in eine Schmuddelecke drängt und Abtreibungsgegner_innen die Oberhand lässt. Bereits diese Gründe wären Anlass genug, für eine Streichung des §218 aus dem Strafgesetzbuch zu sein, aber er selbst war es nicht, der jüngst eine erneute Debatte um das Thema Abtreibung in Deutschland entfachte. Grund für bundesweites Aufsehen war nun §219a, ein Paragraph, der bislang ein Schattendasein fristete und im Wortlaut selbst einigen Ärzt_innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, nicht bekannt war. Doch was besagt er überhaupt?

 

Strafgesetzbuch (StGB)

§ 219a Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft

(1) Wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise

1. eigene oder fremde Dienste zur Vornahme oder Förderung eines Schwangerschaftsabbruchs oder

2. Mittel, Gegenstände oder Verfahren, die zum Abbruch der Schwangerschaft geeignet sind, unter Hinweis auf diese Eignung

anbietet, ankündigt, anpreist oder Erklärungen solchen Inhalts bekanntgibt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

[…]

 

Wo liegt nun das Problem? Wer könnte wollen, dass es Werbung für Schwangerschaftsabbrüche gibt? Die Gießener Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel zumindest nicht und dennoch wurde sie im November 2017 zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt, weil sie gegen § 219a verstoßen haben soll. Dass sie für Schwangerschaftsabbrüche wirbt, war ihr nicht bewusst. Sie hatte keine Rabattaktionen, Sonderangebote oder Werbebanner und doch wurde ein selbsternannter Lebensschützer auf sie aufmerksam. Yannick Hendricks, der sich in Zeitungsinterviews lieber Markus Krause nennt, hat das Anzeigen von Ärzt_innen nach eigener Aussage für sich als Hobby entdeckt. So sucht er systematisch in den Leistungsspektren auf den Homepages von Ärzt_innen nach einem einzigen Spiegelstrich: „Schwangerschaftsabbruch“. Sobald er fündig wird, erstattet er Anzeige. Dies war auch Kristina Hänel zum Verhängnis geworden. Auf ihrer Seite stand und steht immer noch, dass sie Schwangerschaftsabbrüche durchführt. Nicht mehr und nicht weniger. Da sie Abbrüche nicht unentgeltlich durchführt und diese unscheinbare Information zu einer medizinischen Leistung öffentlich einsehbar bereithält, verstößt sie bereits gegen § 219a.

 

Spätestens dieser Umstand demaskiert dieses Gesetz, das in Wirklichkeit gar nicht nur Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verbietet, sondern auch das Anbieten jedweder Information zu diesem Thema zu verhindern sucht, sofern sie von denen zur Verfügung gestellt wird, die sich am besten damit auskennen und für ihre Leistung bezahlt werden. Das hat zur Folge, dass Frauen in Not, die im Internet nach Informationen suchen, vor allem auf Seiten von selbsternannten Lebensschützer_innen (allen voran www.babykaust.de) landen. Dort erhalten sie alles andere als seriöse Informationen und werden in dieser schwierigen Phase, in der sie über eine Abtreibung nachdenken, psychisch traumatisiert. Dabei sollte eine Frau bei einer so schweren Entscheidung doch jede Unterstützung erhalten, die zur Verfügung steht.

 

Diesen Zustand empfand auch Kristina Hänel als unhaltbar, als sie nach ihrer unerwarteten Anzeige entschied, nicht einfach das Leistungsspektrum ihrer Homepage zu ändern, sondern vor Gericht zu gehen, den Menschen diese Ungerechtigkeit vor Augen zu führen und für die Abschaffung von §219a zu kämpfen. Und es ist wirklich ein Kampf. Verfolgt man die Debatte, fällt schnell auf, dass diejenigen, die für die Abschaffung sind, klar die besseren Argumente haben. Doch wo gute Argumente auf gebetsmühlenartig vorgetragene Dogmen der Abtreibungsgegner_innen treffen, ist höchste Wachsamkeit geboten, um sich nicht von der Sache zu entfernen.

 

Im Kern geht es bei der Debatte um die sexuelle Selbstbestimmung der Frau. Eine Frau muss das Recht haben, über ihren Körper zu entscheiden. Erschwert wird dies, wenn Frauen bei der Wahl einer Ärztin oder eines Arztes eingeschränkt werden und auf die Auskunft von Beratungsstellen angewiesen sind, wenn sie keinen oder erschwerten Zugang zu seriösen Informationen über Methoden des Schwangerschaftsabbruchs haben, und ganz besonders dann, wenn durch die Kriminalisierung des Abbruchs immer weniger Ärzt_innen bereit sind, Abbrüche anzubieten oder junge Ärzt_innen auszubilden. Kristina Hänel ist 61 Jahre alt und viele ihrer Kolleg_innen sind in ihrem Alter. Ändert sich nichts an der Situation, werden sie größte Schwierigkeiten haben, Nachfolger_innen zu finden, was zwangsläufig zu einer medizinischen Unterversorgung führen wird, aber sicher nicht zu einem Rückgang der Abtreibungen. Auf diese Weise wird ein vermeintliches Werbeverbot indirekt wieder zu einem Abtreibungsverbot, indem es nicht die Bedingungen für einen straffreien Abbruch bereithält.

 

Ein sehr häufiges Argument der Abtreibungsgegner_innen ist es, schwangere Frauen würden sich zu leichtfertig für einen Abbruch entscheiden, wenn man es ihnen zu leicht machte. Darauf entgegnen Befürworter sexueller Selbstbestimmung nicht selten, dass es sich keine Frau mit dieser Entscheidung leicht machen würde. Das allerdings kann niemand wissen, da niemand alle betroffenen Frauen und all ihre Gründe, sich für oder gegen eine Abtreibung zu entscheiden, kennt. Das ist aber auch überhaupt nicht nötig, weil es darum schlicht nicht geht. Die Fristenlösung erlaubt Abtreibungen unter bestimmten Umständen. D. h., dass Frauen in die Lage versetzt werden müssen, frei zu entscheiden, ob sie eine Schwangerschaft austragen wollen oder nicht. Erschwert man ihr den Zugang zum Schwangerschaftsabbruch, verringert man damit mitnichten die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich für einen solchen entscheidet. Ganz im Gegenteil! Wenn sie nur noch damit beschäftigt ist, sich möglicherweise falsche Informationen zu suchen, Termine mit Beratungsstellen und Ärzt_innen zu vereinbaren, vielleicht selbst nach Ärzt_innenzu suchen, weil die genannten keinen rechtzeitigen Termin anbieten können, sich um eine Kostenübernahme der Krankenkassen zu kümmern und dann noch alles geheim zu halten, um nicht sozial verurteilt zu werden, wird die Frau zur Getriebenen.

 

Niemand kann sagen, ob es sich eine Frau mit der Entscheidung leicht macht, weil niemand weiß, was in ihr vorgeht. Persönlich kann ich mir nicht vorstellen, dass Frauen diese Entscheidung leichtfertig fällen, aber all das ist gar nicht von Belang. Feststeht, dass jede Frau bei ihrer Entscheidung die beste Unterstützung verdient, die sie bekommen kann. Und diese Unterstützung ist ohne eine umfassende medizinische Beratung von ausgebildeten Ärzt_innen nicht denkbar. Wer möchte, dass Frauen sich wohlüberlegt nicht nur gegen, sondern auch für ein Kind entscheiden können, muss gegen § 219a sein.

 

von Dennis Koch

Tanzverbot in Gießen?

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Wer gestern das lange Pfingstwochenende beim Feiern ausklingen lassen wollte, um am heutigen Feiertag auszuschlafen, musste beim Blick in den Kalender feststellen, dass Pfingstsonntag war – ein Tag, an dem laut Hessischem Feiertagsgesetz zwischen 4:00 und 24:00 Uhr nicht getanzt werden darf, da es sich um einen „stillen Feiertag“ handelt.
Schaut man auf andere Bundesländer, stellt man fest, dass an Pfingsten nur in Hessen Tanzverbot herrscht. Mit 15 tanzfreien Tagen im Jahr führt Hessen sogar die deutsche Rangliste an. Ja, Hessen ist in dieser Hinsicht strikter als die vermeintlich so konservativen Länder Bayern (9 Tage) und Baden-Württemberg (7 Tage).

Tanzverbote werden oft mit dem Verweis auf Tradition und Religion begründet. Tradition zu pflegen und Religionen zu folgen kann sehr sinnstiftend sein, lässt sich jedoch leider nicht statistisch begründen, denn nur etwas mehr als die Hälfte der Bevölkerung Hessens, 57% (EKD, Stand 31.12.2016) gehört dem evangelischen oder katholischen Glauben an. Wobei nicht geklärt ist, wie hoch der Anteil derer ist, die ihren Glauben aktiv ausleben. Muss sich also knapp die Hälfte Hessens nach einer Glaubensrichtung richten, der sie nicht angehört? Muss sie sich in ihrer Freiheit, ihren Alltag selbst zu gestalten, beschneiden lassen?

Doch nicht nur hinsichtlich der Selbstbestimmung des Individuums gerät das Tanzverbot unter Kritik. Der Hotel- und Gastronomieverband Hessen kritisiert das vor 46 Jahren erlassene Hessische Feiertagsgesetz. Er betrachtet die Situation unter einem wirtschaftlichen Gesichtspunkt und sieht in den Regelungen einen starken finanziellen Einschnitt für die hessische Tourismusbranche. Der Verband schlägt eine „Reform der Tanzverbote“ vor, laut der lediglich an den Feiertagen Gründonnerstag, Karfreitag, Karsamstag, dem Volkstrauertag und dem Totensonntag ein Tanzverbot herrschen soll.
Mit dieser Reform des veralteten Gesetzes würden die bedeutenden Tage des christlichen Glaubens geehrt werden, an denen Pietät angebracht ist. Somit wäre Hessen mit fünf Tagen auch im Bundesmittel. Gießen scheint dabei aber der Reform schon einen Schritt voraus zu sein, denn wer es sich gestern nicht verkneifen wollte, die Entsendung des Heiligen Geistes zu feiern, der konnte dies getrost tun, da die Tore der Gießener Clubs Haarlem, Monkeys, Admiral und Co geöffnet waren. Dabei war Pfingstsonntag.

 

Hier findest du mehr Informationen zum Tanzverbot in Gießen.

Die UNO-Charta – Gut gedacht, schlecht gemacht!

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San Francisco, 26. Juni 1945 – 50 Staaten unterzeichnen eine internationale Vereinbarung zur Schaffung dauerhaften Friedens

Die UNO-Charta tritt in Kraft. Nach dem zweiten Weltkrieg, dem wohl schrecklichsten Ereignis des 20. Jahrhunderts, wurde der Vertrag von einem großen Teil der internationalen Gemeinschaft ratifiziert. Solch ein Ereignis sollte sich niemals wiederholen. Zunächst hauptsächlich von fünf Nationen vorangetrieben – USA, Vereinigtes Königreich, Sowjet Union, China, Frankreich – schlossen sich bis heute 188 weitere Länder an. Sie bilden zusammen 99,4% der Weltbevölkerung ab.

Die Vereinten Nationen, wie sich die United Nations Organization übersetzt, stecken sich folgende Ziele:

„Den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen.“ (UNO-Charta; Artikel 1; Absatz 1)

In vielen Ländern weltweit wird militärisch interveniert

Um dem entgegenzuwirken beschließt die Staatengemeinschaft der UNO Mandate. Dabei werden Maßnahmen getroffen, die z.B. völkerrechtswidrige Handlungen eindämmen sollen. So etwa 2011 in Libyen, als NATO-Flugzeuge das Land bombardierten und eine Flugverbotszone einrichteten, um den derzeitigen Machthaber Gaddafi daran zu hindern seine eigene Zivilbevölkerung mit Luftangriffen zu attackieren. Doch nicht nur Diktatoren waren an kriegerischen Handlungen beteiligt, die ohne UN-Mandat ausgeführt wurden.

Syrien, 14.04.2018 – Die USA, Frankreich und Groß-Britannien beschossen im Damaskus mehrere Ziele mit Marschflugkörpern. Der Grund dieser Intervention, war ein mutmaßlicher Giftgasangriff seitens des syrischen Regimes. Die Handlung der drei ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat hatte allerdings kein Mandat der Vereinten Nationen, denn die unabhängige Untersuchung der zuständigen Behörde – OPCW – stand noch aus.

Keine Konsequenzen

Normalerweise hätte eine Missachtung der UNO-Charta Gegenmaßnahmen zur Folge. In diesem, sowie in einigen weiteren Fällen, blieben sie allerdings aus.

Das lässt sich anhand der Privilegien der Mitglieder des permanenten Sicherheitsrates erklären, der einen Bestandteil der Vereinten Nationen abbildet. Diese Mitglieder besitzen ein Veto-Recht, mit dem sie jede Entscheidung der UNO blockieren können. Diese Möglichkeit haben ausschließlich die USA, Russland, China, Großbritannien und Frankreich. Somit können immer wieder Verstöße gegen die UNO-Charta begangen werden, ohne Folgen durch die internationale Gemeinschaft – in Form der Vereinten Nationen – befürchten zu müssen.
Ist diese Nachkriegsordnung in dieser Form noch sinnvoll?

 

von L. Herteux