Eingeholt – Rassismus bleibt aktuell

Rückblick: Am 8. Juni 2018 trat der junge Verein mitmission e. V. mit seiner Auftaktveranstaltung zu rassistischer und antisemitischer Gewalt für die Öffentlichkeit wahrnehmbar in Erscheinung. In die Podiumsdiskussion mit Justyna Staszczak, Mitarbeiterin der Bildungsstätte Anne Frank, kam eine unerwartete Schärfe bei dem Begriff des Rassismus und der Frage, wer Opfer von Rassismus werden könne. Vereinzelt wurde Unverständnis darüber laut, dass zwar Rassismus eine Form der Diskriminierung, aber nicht jede Diskriminierung zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft auch Rassismus sei. Konkret ging es um den Streitpunkt, warum nur Weiße rassistisch sein können.

Nun, zwei Jahre später, erleben wir ein Aufflammen der Debatte. Das Thema Rassismus ist uralt und gleichzeitig brandaktuell. Entzündet hat sich der Protest am Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der in Folge völlig unverhältnismäßiger Gewalt bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam. Daran, dass der Tod des Mannes hätte verhindert werden können, der von einem weißen Polizisten minutenlang am Boden gehalten wurde, indem der Polizist auf dem Hals des Opfers kniete, besteht kein begründeter Zweifel. Dass die Kollegen des Polizisten nicht einschritten, ist nicht zu begreifen. Dass die Beamten erst nach Tagen und den ersten großen Protesten entlassen wurden, macht fassungslos. Dass diese völlig überzogene Polizeigewalt an Schwarzen kein Einzelfall in den USA ist, zeigt den noch immer tief verwurzelten, viel zu oft ignorierten, geduldeten und mitunter gewollten Rassismus.

Dass sich die Wut der Opfer, der Angehörigen und aller Schwarzen, denen Rassismus schon so oft begegnet sein muss, indem sie benachteiligt, ausgegrenzt, beschimpft, bedroht und sogar körperlich verletzt wurden, nun mit großer Wucht entlädt, kann niemanden überraschen. Doch Plünderungen und Ausschreitungen können nie der Weg sein, um ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen. So besteht umso mehr Grund zur Hoffnung, wenn den Ausschreitungen ein noch größerer friedlicher Protest gegenübersteht, der auch zunehmend von Teilen der weißen Bevölkerung getragen wird.

Trotz aller Solidarität und größter Aufmerksamkeit für den Protest wird auch er nicht zu einem Ende des Rassismus führen. Aber er kann helfen. Er kann helfen, wenn er bewirkt, dass offen über Rassismus geredet wird, auch wenn die Kraft des Protests auf der Straße in den nächsten Wochen wieder abnimmt. Das Thema darf kein Tabu sein, es darf nicht totgeschwiegen werden. Selbst die Weißen, die nun gemeinsam mit ihren schwarzen Mitmenschen für ein Ende der Gewalt, für die Gleichberechtigung aller Menschen und gegen Rassismus auf die Straße gehen, werden sich eingestehen müssen, dass auch sie nicht frei von rassistischen Vorurteilen sind. Sich dessen bewusst zu werden, den respektvollen und offenen Dialog zu suchen und Rassistinnen und Rassisten entschlossen zu widersprechen, ist der Weg, den jede*r für sich nach dem Protestmarsch fortsetzen sollte.

Bei all der berechtigten Kritik am Rassismus der USA sollten wir unsere eigenen Hausaufgaben nicht vergessen. Rassismus ist kein rein amerikanisches Problem. Die Brutalität der in zahlreichen Videos festgehaltenen Polizeigewalt der Vereinigten Staaten mag uns für bundesdeutsche Verhältnisse schwer vorstellbar erscheinen, aber das sollte niemandem das Gefühl moralischer Überlegenheit geben. Es geht hier nicht um einen Unterbietungswettbewerb: „Wir sind zwar auch rassistisch, aber noch lange nicht so rassistisch wie ihr.“ Wer auf diese Weise argumentiert, hat das Problem nicht verstanden und – so ist zu befürchten – will das Problem auch gar nicht verstehen. Rassismus in jeder Form und in jedem Ausmaß ist schlecht. Wer meint, einige Ausprägungen von Rassismus seien nicht so schlimm und müssten daher nicht ernstgenommen werden, legitimiert ihn und trägt zu seiner Verfestigung bei.

Nur ein Beispiel von vielen: Auch hier sahen sich Menschen mit ostasiatischem Aussehen jüngst furchtbaren Anfeindungen ausgesetzt, weil sie für Überträgerinnen des Coronavirus gehalten wurden. Die verkürzte und rassistische Idee dahinter ist, dass China der Ursprung der Pandemie ist und dass alle, die ostasiatisch aussehen, Chinesinnen sein könnten und deshalb schuld an der Pandemie sind. Es ist eine ganz andere Facette des Rassismus und doch ist es auch Rassismus, der auch zu Benachteiligung, Ausgrenzung, Beschimpfung und sogar körperlicher Verletzung führt.

Rassismus hat unzählige Gesichter; völlig unterschiedlich und in ihrer Hässlichkeit alle gleich. Sie trotz ihrer Unterschiedlichkeit zu erkennen, ist eine Aufgabe, der sich alle gemeinsam stellen müssen und sich jede*r für sich stellen muss – nicht nur heute, sondern immer wieder. Wem Rassismus selten begegnet, kann sich entweder glücklich schätzen oder sieht nicht genau genug hin.

Dennis Koch

Artikel zur mitmission-Auftaktveranstaltung 2018: https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/auftaktveranstaltung-vereins-mitmission-11891182.html

Brennpunkt zu Rassismus: https://www.daserste.de/unterhaltung/comedy-satire/carolin-kebekus-show/videos/brennpunkt-die-carolin-kebekus-show-folge-3-video-100.html

Schüler- und Studentenproteste in Bangladesch Ende Juli / Anfang August 2018

https://pixabay.com/photo-2525861/

Am 29. Juli, um etwa 12.30 Uhr Ortszeit rast ein Bus in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs in eine Studentenmenge. Zwei von ihnen sind auf der Stelle tot, weitere sieben werden zum Teil schwer verletzt.1 In der Folge ergießt sich eine Welle von Protesten über die Stadt und den Rest des Landes, die über eine Woche anhalten werden.

Diese Proteste dienen als Katalysator für jahrelang aufgestaute Unzufriedenheit mit der Regierung – sagt Shahidul Alam, ein weltweit renommierter Photojournalist, in einem Interview am 04. August.2 Seine Vorwürfe sind weitreichend; „[Die Regierung] hat nicht wirklich ein Mandat, hält sich aber mit roher Gewalt. [D]as Verschwinden [von Personen], der Zwang, Schutzgeld zu zahlen [und] Bestechung auf allen Ebenen“ seien auch verantwortlich gewesen für Proteste, die Alam in Verbindung mit den Demonstrationen Anfang August bringt. Im April hatten in Bangladesch große Proteste gegen Vetternwirtschaft stattgefunden, die brutal niedergeschlagen worden seien, so Alam. Die Premierministerin von Bangladesch, Hasina Wajed, habe damals zwar Reformen versprochen – sei jedoch später wieder von diesen abgerückt. Damit erklärt er die zum Zeitpunkt des Interviews bereits Tage anhaltende, kriegsähnliche Situation in Dhaka; die Premierministerin habe ihre Glaubwürdigkeit endgültig verspielt.

Nur Stunden nach dem Interview wird Shahidul Alam von mehreren Männern in Zivil mit verbundenen Augen abgeführt. Handys von Augenzeugen werden konfisziert.3

Die innenpolitische Situation in Bangladesh ist insgesamt also äußerst angespannt: „Das politische Leben ist von tiefen Kluften zwischen den beiden größten Parteien (Bangladeschs Nationalistischer Partei und Bangladeschs Awami League) und einer extremen Politisierung der Wirtschaft und des öffentlichen Dienstes geprägt, die sich in Korruption und Vetternwirtschaft und in regelmäßigen Ausbrüchen politischer Gewalt zeigt.“ So urteilt die Bundeszentrale für politische Bildung in ihrem Länderprofil-Bericht 2015.4

In einer Analyse der Hintergründe der Proteste wurden erschreckende Zahlen zur Verkehrssicherheit in Bangladesch genannt: so beläuft sich die Zahl der Verkehrstoten pro Tag auf durchschnittlich 20. Im Jahr 2017 sollen alleine 4.200 Fußgänger getötet worden sein.

Laut einer Studie der Weltgesundheitsorganisation ist Bangladesch dasjenige südostasiatische Land mit den schlechtesten Gesetzen für Verkehrssicherheit5.

Schlechte Gesetzgebung, fehlende – beziehungsweise korrupte – Kontrollinstanzen sowie schlechte Arbeitsbedingungen der Busfahrer (Schichten von 17 Stunden für einen Stundenlohn von weniger als einem Dollar6). Der Generalsekretär der Straßentransport-Gesellschaft hat nun zugesichert, keine Fahrer ohne Führerschein mehr einzustellen.7

Vor diesem Hintergrund verwundert es sicher nicht, dass die Tode durch den Busunfall am 29. Juli zu weitreichenden Protesten führten.

Laut Medienberichten8 blockierten zehntausende Schüler und Studenten in den folgenden Tagen die Straßen der Hauptstadt Dhaka. Dabei ließen die Protestierenden nur Krankenwagen passieren und kontrollierten tausende Fahrzeugpapiere ziviler Fahrer.9

Dabei wurden jedoch auch die Fahrzeuge von Beamten gestoppt, etwa der stellvertretende Generalinspekteur der Flusspolizei Habib. Auch sein Fahrer hatte keinen Führerschein, das Fahrzeug keine Registrierung.10

Aber nicht nur auf den Straßen in Dhaka waren die jungen Demonstrierenden aktiv, sondern ganz wesentlich auch im Internet: auf Blogs, gehackten Webseiten und durch Live-Update-Services riefen sie die Welt zur Aufmerksamkeit für ihre Situation auf. Dabei fielen immer wieder Vorwürfe auch gegenüber westlichen Medien, wissentlich keine Berichte über die Proteste in Dhaka zu publizieren.

Nicht nur, dass die Regierung als Antwort auf die Proteste zuerst Mobilfunknetzwerke verlangsamen (sog. ‚brown-outs‘) und schließlich für mindestens 24 Stunden abschalten ließ11; in dem Versuch, die Ausbreitung und das Andauern der Proteste zu verhindern, griff die Polizei schließlich zu Tränengas, Gummiknüppeln und Gummigeschossen.

Generell hat jeder Staat das Recht, unangemeldete Proteste, besonders in einem Fall wie diesem, in dem wichtige Verkehrsknotenpunkte der Hauptstadt eines Landes für mehrere Tage unbenutzbar sind, zu unterbinden. Was sich aber am Wochenende des 04. und 05. Augustes und den darauffolgenden Tagen in Dhaka ereignete, ist eine Magnitude nicht nur über dem, was sich ein Staat zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit erlauben kann; was folgte, waren nicht nur Verletzungen des Rechts auf freie Meinungsäußerungen. Als sich die Bangladesh Chatra League, die Studentenorganisation der Regierungspartei Awami League in die Proteste einmischte – ihre Gesichter durch Helme geschützt und mit Stöcken bewaffnet, mit Unterstützung der Polizei, beginnt eine neue Ebene der Gewalttätigkeit gegenüber den Protestierenden.12

Die gehackte Webseite des Notre-Dame-College in Dhaka enthielt am Abend des 04. August folgende Nachricht:

Dear Bangladesh Prime Minister and Principals, [d]id you achieve the peace by Beating. Killing. Raping Teen Students? Bangladesh Chatra League attacked innocent college Students in Jigatola Dhanmondi today 04/08/18.“13

Darunter sind Bilder verletzter Protestierender abgebildet; blutende Menschen werden von anderen getragen und versorgt. Einer liegt reglos mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden – in einer Lache seines eigenen Blutes. Ein verlinktes Video zeigt ein Mädchen, das berichtet, dass zum Zeitpunkt des Filmens ihre Freundin in einem Büro der Awami League vergewaltigt wird.14

The Daily Star veröffentlicht ein Video auf Youtube, in dem Männer mit Stöcken zu sehen sind. Als sie bemerken, dass sie gefilmt werden, laufen sie auf die Kamera zu – das Video bricht ab.15

Nach Berichten der BBC wurden auch Mitglieder der lokalen Presse von den Schlägern der BCL angegriffen. Ihre Kameraausrüstungen wurden zerstört, und eine weibliche Reporterin berichtet auch von sexuellen Übergriffen, während sie versuchte, die Konfrontationen auf der Straße zu filmen.16

Ein privater Blog, der augenscheinlich von Studenten betrieben wird, errechnet die mutmaßlichen Opferzahlen am siebten Tag der Proteste:

4 male students have been shot dead, 4 female students have been raped and murdered, 1 male student had his eyes clawed out, 40–50 of female students are still missing. These are however not verified news […] but I trust what my friends and classmates are saying.“17

Es ist nicht klar, wie viele von diesen Berichten verifiziert werden können. Dass das Ausmaß der Gewalt jegliche Regelhaftigkeit überschritten hat, ist jedoch am Wochenende nach dem 29. Juli längst keine Frage mehr.

Die internationale und mediale Reaktion ließ angesichts dieser Umstände unverhältnismäßig lange auf sich warten. Am Sonntag, dem 05. August veröffentlichten die Vereinten Nationen einen Mitteilung, sie sei bezüglich der „Sicherheit von Kindern und jungen Demonstrierenden“ besorgt.18

Die US-amerikanische Botschaft veröffentlichte ein Statement auf Facebook, indem sie die „brutalen Attacken und Gewalt“ gegenüber Demonstrierenden verurteilte19. Der Informationsminister von Bangladesch forderte die Botschaft auf, diese Stellungnahme zurückzunehmen; sie sei „unhöflich“20.

Die Vorfälle in Bangladesch regen zum Nachdenken an. Ein Staat gibt seine Rechtsstaatlichkeit auf und geht gewaltvoll gegen Protestanten/innen vor. Das Recht auf freie Meinungsäußerung oder die Einhaltung der Pressefreiheit ist in diesem Land längst nicht mehr vorhanden. Es stellt sich die Frage, warum die Berichterstattung insbesondere auch von den westlichen Nationen so zurückhaltend ausgefallen ist.

Ist es denn nicht gerade in diesen Fällen umso wichtiger, auf die Situation und die Vorfälle aufmerksam zu machen? Ist eine Einschüchterung womöglich eine Bestätigung für die Peiniger? Vielleicht müssten diese und viele weitere Punkte zu dem Thema deutlich ausführlicher auch in den deutschen Medien besprochen werden. Das Wegschauen wäre definitiv die falsche Lösung!

Quellen:

1 https://www.dhakatribune.com/bangladesh/dhaka/2018/07/29/2-students-killed-in-dhaka-road-accident

2 https://www.youtube.com/watch?time_continue=17&v=J9j3EgLm62Q

3 https://www.washingtonpost.com/news/democracy-post/wp/2018/08/20/heres-why-the-bangladeshi-government-made-a-huge-mistake-by-jailing-shahidul-alam/?noredirect=on&utm_term=.56443d7bcb49

4 http://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/L%C3%A4nderprofil%20Bangladesch_2015.pdf

5 http://www.who.int/violence_injury_prevention/road_safety_status/2015/Road_Safety_SEAR_4_for_web.pdf

6 https://www.reuters.com/article/bangladesh-protests-drivers/rpt-overworked-underpaid-bangladesh-bus-drivers-say-accidents-not-entirely-their-fault-idUSL4N1V41YA

7 ebd.

8 https://www.reuters.com/article/us-bangladesh-protests/bangladesh-police-fire-tear-gas-to-clear-protesters-blocking-traffic-idUSKBN1KQ098

9 https://medium.com/@studentofdhaka/bangladesh-wants-justice-da027e539c8a

10 https://www.thedailystar.net/city/students-stop-police-dig-finds-no-license-or-papers-students-block-streets-in-dhaka-1614904

11 https://www.bbc.com/news/world-asia-45069935?SThisFB

12 http://www.banglanews24.com/national/article/70017/Protesting-students-come-under-attack-at-Jhigatola

13 http://archive.is/MZEhf#selection-24.3-12.1

14 https://drive.google.com/file/d/1B5Fz2SIgtZty7u1nK3XjYuF28HIY2CFr/view

15 https://www.youtube.com/watch?v=QQ29Rb53nD0

16 https://www.bbc.com/news/world-asia-45069935?SThisFB: Namentlich bekannte Opfer der Presse: AM Ahad (AP), Zawad (Daily Janakantha), Palash (Banik Barta), (Zuma Press), Sharif (Dainik Naya Diganta), Rahat (selbstständig) und Enamul Hasan, ein Fotografiestudent (Pathsala South Asian Media institute)

17 https://medium.com/@studentofdhaka/bangladesh-wants-justice-da027e539c8a

18 https://en.prothomalo.com/bangladesh/news/181088/UN-urgently-calls-upon-all-to-keep-everyone-safe

19 https://www.reuters.com/article/us-bangladesh-protests/bangladesh-demands-u-s-embassy-withdraw-criticism-over-protests-idUSKBN1KT1ST

20 ebd.