Hanau in Gießen – „Wir vergessen nicht“

Der Plan für den Vereinsausflug nach Hanau steht. Für den 22. August haben die Vereinsmitglieder, die an der Demo zum Gedenken an die Opfer des rassistischen Anschlags vom 19. Februar 2020 in Hanau teilnehmen wollen, gerade vereinbart, wie die Anreise vonstattengehen soll. Und dann das… 21.32 Uhr Diane leitet an die WhatsApp-Gruppe eine Nachricht weiter, dass die Demo in ihrer ursprünglichen Form abgesagt wurde und es einen Live-Stream geben wird.

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Nach einem Moment der Enttäuschung wirft Isa die Idee in die Runde, den Live-Stream auf einem öffentlichen Platz in Gießen zu zeigen. Erste Bedenken: Kriegen wir das so schnell hin? Ist das überhaupt während Corona erlaubt? Können wir schon Leute informieren, obwohl noch nichts steht? Abgehakt, wir haben zu wenig Zeit. Nächste Idee. Wir machen eine Mahnwache mit Bildern von den Opfern. Die Idee wird ausgebaut. In Windeseile bildet sich eine kleine AG über WhatsApp und das Konzept entsteht.

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+++ Aufruf zum Gedenken an Hanau +++

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Wie ihr vielleicht mitbekommen habt, wurde die Demo zum Gedenken an die rassistischen Anschläge in Hanau vor sechs Monaten aufgrund der steigenden Corona-Infektionen kurzfristig abgesagt. Die Sicherheitsmaßnahmen haben natürlich höchste Priorität, wir haben vollstes Verständnis für diese Entscheidung.

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Trotzdem ist es uns wichtig, an die Ereignisse des 19. Februar zu erinnern und Gerechtigkeit, Aufklärung und Konsequenzen zu fordern. Deshalb werden wir uns morgen ab 14.00 Uhr für etwa eine Stunde verteilt im Seltersweg (beginnend am Elefantenklo) positionieren und Plakate mit den Namen der Opfer zeigen. Alle, die morgen nach Hanau zur Demo fahren wollten, sowie alle, die sich hier gegen Rassismus stark machen wollen, rufen wir auf, sich uns anzuschließen!

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Wir tragen schwarze T-Shirts, die wir mit Klebeband versehen, auf dem #saytheirnames steht. Außerdem natürlich Masken! Ganz wichtig! Die Plakate und das Klebeband stellen wir bereit. Ihr könnt zu zweit oder in Kleingruppen (max. 10 Personen) mitmachen.

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Wir freuen uns auf euch!

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Dass in dem blitzschnell von Hannah verfassten Text das Datum nicht direkt benannt ist und ein deiktischer Begriff wie „morgen“ für Verwirrung sorgen könnte, fällt niemandem auf. Wenn die Zeit drängt und viel zu tun ist, ist das aber normal. Schnell ließ sich das Problem später klären und alles nahm seinen Lauf.

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Am nächsten Tag, dem 22. August, dem Tag der abgesagten Demo, stehen Sandra, Hannah, Isa und ich vorm Copyshop in der Waagengasse. Die Mitarbeiterin kommt sogar raus und begrüßt uns freundlich. Eine super liebe und hilfsbereite Frau. Kurz vorm Reingehen ein Rückruf von Inge von den Omas gegen Rechts: „Die Omas sind dabei!“ Wir sind begeistert und lassen direkt mal zehn Plakate mehr drucken. Das fleißige Bewerben auf Insta, über den WhatsApp-Status der Mitglieder und durch gezieltes Anschreiben der üblichen Verdächtigen hat sich gelohnt. Sogar ein Streifenwagen, der die Waagengasse passiert, bleibt kurz stehen, um nach den vier freundlichen, schwarz gekleideten Menschen mit zusammengerollten Fahnen, die vorm Copyshop stehen (also nach uns), Ausschau zu halten. Dass wir Schwarz als Zeichen der Trauer um die Opfer tragen, konnten sie ja nicht wissen. Begeisterung mischt sich mit Nervosität, aber zumindest fahren unsere Aufseher*innen für den Moment weiter. Mental bereiten wir uns darauf vor, dass die Mahnwache aufgelöst werden könnte, aber gleichzeitig können wir uns nicht vorstellen, warum. Unser Konzept ist garantiert besser als die Luftschlösser, die es tausenden Fans ermöglichen sollen, Fußballspiele live in Stadien zu sehen.

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Bis in die Haarspitzen motiviert legen wir noch eine kleine Bastelstunde ein, um die druckfrischen Plakate mit den Gesichtern und Namen der Opfer des Anschlags zu modifizieren. Nicht zufällig haben wir für unsere Bastelaktion die Plockstraße gewählt. Bei aller Arbeit fordert auch die Natur ihr Recht ein und so sind wir sehr dankbar für die Netten Toiletten in den dortigen Lokalitäten.

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Am Elefantenklo angekommen wird es immer besser. Erst ist Lydia da und dann kommen immer mehr Menschen mit Mund-Nasen-Schutz, die wir mit den vorbereiteten Plakaten und Klebestreifen mit der Aufschrift „#saytheirnames“ ausstatten. Und das Beste: Die hören auch noch alle genau zu, wie wir uns das vorgestellt haben, damit es sauber über die Bühne geht. Es läuft besser als gedacht.

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Während Isa souverän mit der Dame vom Gießener Anzeiger spricht, laufen die letzten Vorbereitungen: Alle sind mit Material versorgt und eingewiesen, die Omas gegen Rechts (sie sind einfach so toll) brennen für ihren Einsatz und wir bringen uns in Position. Wie eine Perlenkette zieht sich unsere Mahnwache durch den Seltersweg. Angefangen beim Haupteingang einer bekannten Warenhauskette, die in regelmäßigen Abständen vor dem Aus steht, reichen wir bis zu den Schwätzern. Anhand der verteilten Plakate und Klebestreifen überschlagen wir kurz: knapp 50 Leute. Krass!

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Während wir so stehen und unsere Plakate präsentieren, wäre es interessant, in die Köpfe der Vorbeigehenden sehen zu können. Einige schauen sehr interessiert zu uns, lesen, was auf den Plakaten steht, halten zum Teil einen Moment inne. Andere gucken scheinbar desinteressiert bis abgeneigt weg. Nur die Omas werden kurz etwas belästigt, weil sich jemand durch unsere Mahnwache provoziert fühlt. Es geht eben gerade um einen rassistischen Anschlag, an den wir erinnern möchten. Das hat nichts damit zu tun, dass es nicht auf furchtbar ist, wenn Menschen aus anderen „Gründen“ (eigentlich kann man gar nicht von Gründen reden, weil nichts einen Mord rechtfertigen kann), ermordet werden. Nun aber fordern wir

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ERINNERUNG, GERECHTIGKEIT, AUFKLÄRUNG, KONSEQUENZEN.

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Das Alltagsgeschäft in Politik und Öffentlichkeit wird nach entsetzlichen Ereignissen wie dem rassistischen Anschlag von Hanau viel zu schnell wieder aufgenommen. Dass wir uns damit nicht abfinden wollen, können einige Menschen, die Rassismus leugnen, nicht ertragen: Wir nennen diese Menschen Rassist*innen.

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Jeder Mensch hat ein Recht darauf, wegen äußerer Merkmale wie seiner Hautfarbe NICHT schlechter behandelt zu werden als irgendein anderer Mensch. Rassistische Ungerechtigkeiten dürfen nie hingenommen werden. Es gibt dabei keinen unbedeutenden Rassismus. Jede rassistische Handlung ist ein Baustein, unzählige Bausteine zusammen erschaffen ein monströses Gebilde, das Menschen ausschließt, sie benachteiligt, angreift und im schlimmsten Fall ermordet. Und warum? Das Warum bleibt unbegreiflich. Wir sind alle Menschen. Daran erinnern wir.

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Unser Verein war begeistert, dass unserem in aller Schnelle gestarteten Aufruf so viele engagierte Menschen gefolgt sind, die dazu beigetragen haben, die Opfer für eine Stunde im Zentrum von Gießen wieder sichtbar zu machen, zu zeigen, dass es uns nicht egal ist, wie es weitergeht, zu zeigen, dass wir gegen Rassismus zusammenstehen.

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Wir trauern um:

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Ferhat Unvar

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Mercedes Kierpacz

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Sedat Gürbüz

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Gökhan Gültekin

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Hamza Kurtović

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Kaloyan Velkov

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Vili Viorel Păun

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Said Nesar Hashemi

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Fatih Saraçoğlu

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Gabriele Rathjen

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Dennis

Eingeholt – Rassismus bleibt aktuell

Rückblick: Am 8. Juni 2018 trat der junge Verein mitmission e. V. mit seiner Auftaktveranstaltung zu rassistischer und antisemitischer Gewalt für die Öffentlichkeit wahrnehmbar in Erscheinung. In die Podiumsdiskussion mit Justyna Staszczak, Mitarbeiterin der Bildungsstätte Anne Frank, kam eine unerwartete Schärfe bei dem Begriff des Rassismus und der Frage, wer Opfer von Rassismus werden könne. Vereinzelt wurde Unverständnis darüber laut, dass zwar Rassismus eine Form der Diskriminierung, aber nicht jede Diskriminierung zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft auch Rassismus sei. Konkret ging es um den Streitpunkt, warum nur Weiße rassistisch sein können.

Nun, zwei Jahre später, erleben wir ein Aufflammen der Debatte. Das Thema Rassismus ist uralt und gleichzeitig brandaktuell. Entzündet hat sich der Protest am Tod des schwarzen US-Amerikaners George Floyd, der in Folge völlig unverhältnismäßiger Gewalt bei einem Polizeieinsatz ums Leben kam. Daran, dass der Tod des Mannes hätte verhindert werden können, der von einem weißen Polizisten minutenlang am Boden gehalten wurde, indem der Polizist auf dem Hals des Opfers kniete, besteht kein begründeter Zweifel. Dass die Kollegen des Polizisten nicht einschritten, ist nicht zu begreifen. Dass die Beamten erst nach Tagen und den ersten großen Protesten entlassen wurden, macht fassungslos. Dass diese völlig überzogene Polizeigewalt an Schwarzen kein Einzelfall in den USA ist, zeigt den noch immer tief verwurzelten, viel zu oft ignorierten, geduldeten und mitunter gewollten Rassismus.

Dass sich die Wut der Opfer, der Angehörigen und aller Schwarzen, denen Rassismus schon so oft begegnet sein muss, indem sie benachteiligt, ausgegrenzt, beschimpft, bedroht und sogar körperlich verletzt wurden, nun mit großer Wucht entlädt, kann niemanden überraschen. Doch Plünderungen und Ausschreitungen können nie der Weg sein, um ein Zeichen gegen Gewalt zu setzen. So besteht umso mehr Grund zur Hoffnung, wenn den Ausschreitungen ein noch größerer friedlicher Protest gegenübersteht, der auch zunehmend von Teilen der weißen Bevölkerung getragen wird.

Trotz aller Solidarität und größter Aufmerksamkeit für den Protest wird auch er nicht zu einem Ende des Rassismus führen. Aber er kann helfen. Er kann helfen, wenn er bewirkt, dass offen über Rassismus geredet wird, auch wenn die Kraft des Protests auf der Straße in den nächsten Wochen wieder abnimmt. Das Thema darf kein Tabu sein, es darf nicht totgeschwiegen werden. Selbst die Weißen, die nun gemeinsam mit ihren schwarzen Mitmenschen für ein Ende der Gewalt, für die Gleichberechtigung aller Menschen und gegen Rassismus auf die Straße gehen, werden sich eingestehen müssen, dass auch sie nicht frei von rassistischen Vorurteilen sind. Sich dessen bewusst zu werden, den respektvollen und offenen Dialog zu suchen und Rassistinnen und Rassisten entschlossen zu widersprechen, ist der Weg, den jede*r für sich nach dem Protestmarsch fortsetzen sollte.

Bei all der berechtigten Kritik am Rassismus der USA sollten wir unsere eigenen Hausaufgaben nicht vergessen. Rassismus ist kein rein amerikanisches Problem. Die Brutalität der in zahlreichen Videos festgehaltenen Polizeigewalt der Vereinigten Staaten mag uns für bundesdeutsche Verhältnisse schwer vorstellbar erscheinen, aber das sollte niemandem das Gefühl moralischer Überlegenheit geben. Es geht hier nicht um einen Unterbietungswettbewerb: „Wir sind zwar auch rassistisch, aber noch lange nicht so rassistisch wie ihr.“ Wer auf diese Weise argumentiert, hat das Problem nicht verstanden und – so ist zu befürchten – will das Problem auch gar nicht verstehen. Rassismus in jeder Form und in jedem Ausmaß ist schlecht. Wer meint, einige Ausprägungen von Rassismus seien nicht so schlimm und müssten daher nicht ernstgenommen werden, legitimiert ihn und trägt zu seiner Verfestigung bei.

Nur ein Beispiel von vielen: Auch hier sahen sich Menschen mit ostasiatischem Aussehen jüngst furchtbaren Anfeindungen ausgesetzt, weil sie für Überträgerinnen des Coronavirus gehalten wurden. Die verkürzte und rassistische Idee dahinter ist, dass China der Ursprung der Pandemie ist und dass alle, die ostasiatisch aussehen, Chinesinnen sein könnten und deshalb schuld an der Pandemie sind. Es ist eine ganz andere Facette des Rassismus und doch ist es auch Rassismus, der auch zu Benachteiligung, Ausgrenzung, Beschimpfung und sogar körperlicher Verletzung führt.

Rassismus hat unzählige Gesichter; völlig unterschiedlich und in ihrer Hässlichkeit alle gleich. Sie trotz ihrer Unterschiedlichkeit zu erkennen, ist eine Aufgabe, der sich alle gemeinsam stellen müssen und sich jede*r für sich stellen muss – nicht nur heute, sondern immer wieder. Wem Rassismus selten begegnet, kann sich entweder glücklich schätzen oder sieht nicht genau genug hin.

Dennis Koch

Artikel zur mitmission-Auftaktveranstaltung 2018: https://www.giessener-allgemeine.de/giessen/auftaktveranstaltung-vereins-mitmission-11891182.html

Brennpunkt zu Rassismus: https://www.daserste.de/unterhaltung/comedy-satire/carolin-kebekus-show/videos/brennpunkt-die-carolin-kebekus-show-folge-3-video-100.html

#MeTwo – „Der Dominostein ist ins Rollen gebracht worden“

Seit 10 Tagen verbreitet sich über Twitter der Hashtag #MeTwo, bei dem Menschen von ihren Rassismuserfahrungen berichten. Mittlerweile haben über 40.000 Menschen mit Migrationshintergrund zu ihren Erfahrungen von Diskriminierung und Rassismus im Alltag Stellung bezogen. Der Journalist und Aktivist Ali Can hat die Debatte ins Leben gerufen. Er hat bereits vor einiger Zeit eine Hotline für besorgte Bürger eingerichtet, bei der sich Menschen über die Themen Integration, Flüchtlinge uvm. austauschen können.

Die Debatte #MeTwo wurde ursprünglich auf Grund der rassistischen Äußerungen gegen den ehemaligen Fußball Nationalspieler Mesut Özil ausgelöst. Während des Wahlkampfes in der Türkei postete der ehemalige Nationalmannschaftsspieler ein Foto mit dem türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Der DFB entschied sich, Özil trotzdem mit zur WM nach Russland zu nehmen. Nach der Niederlage der Deutschen wurde dieser jedoch mit rassistischen Äußerungen angegangen. Am 23. Juli 2018 trat Özil mit dem Vorwurf des Rassismus aus der Nationalmannschaft zurück – eine Konsequenz, die es in dieser Form bisher noch nicht gegeben hat.

Dass der Post eines Fotos mit Staatspräsident Erdoğan für Özil Kritik bedeutet, war zu erwarten. Seine Erklärung, dieses Foto stünde in keinem politischen Kontext ist schlicht und einfach unglaubwürdig. Als Mitglied der Fußball-Nationalmannschaft hat man für viele eine Art Vorbildfunktion. Ein Zuspruch gegenüber einem Staatspräsidenten, der die demokratischen Grundwerte missachtet und der sein Land spaltet, kann und darf nicht folgenlos bleiben.

Doch die Folge des DFB war – Özil fährt mit nach Russland zur WM. Erst nach der Niederlage der Deutschen wurde plötzlich auch der deutschen Bevölkerung klar, „Özil, das geht nicht“. Rassistische Äußerungen folgten. Hier stellt sich die zentrale Frage: Was wäre passiert, wenn Deutschland die Fußballweltmeisterschaft vielleicht gewonnen hätte? Sieg oder Niederlage sind verbunden mit der Zuordnung Özils als Deutscher oder Fremder. Mesut Özils Konsequenz daraus:Er trat am 23.Juli 2018 aus der Nationalmannschaft mit einer klaren Stellungnahme zurück. Sein Rücktritt löste eine Rassismus-Debatte aus. Eine Debatte, die längst überfällig war und über einen Prominenten nun ins Rollen gebracht wurde. Angelehnt ist die Debatte an den weltweiten #MeToo Skandal, in dem es um Sexismus-Vorwürfe in Hollywood ging.

Nun stehen die Stimmen von Menschen im Vordergrund, die über alltägliche Diskriminierungserfahrungen berichten. Die schnell anwachsende Zahl an Personen, die an der Debatte teilnehmen, zeigt, dass es längst an der Zeit war. Plötzlich kommt etwas ans Licht, wovon man eigentlich die ganze Zeit gewusst hat, ein Thema, das jedoch keinen öffentlichen und breiten Diskurs gefunden hat. Inwiefern Özil, der mit einem Staatspräsidenten wie Erdoğan sympathisiert, eine „Identifikationsfigur“ für eine Debatte gegen Rassismus sein kann, bleibt fraglich.

Bundesvorsitzender der Grünen, Robert Habeck, äußerte sich über Twitter zu Recht, indem er sagte: “Sprache schafft Welt und Wirklichkeit. Die Alltagserfahrungen von Diskriminierung und Rassismus unter #MeTwo sind nicht nur persönliche Geschichten. Sie sind eine politische Bewegung für Anerkennung und Respekt.“ Fangen wir also an, den Menschen zuzuhören und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Rassismus in Deutschland ein alltägliches Problem ist, gegen das wir vorgehen müssen!